Waldbeeren im Streik

Schon in den frühen Morgenstunden streifte Fuchs Listig durch den Zauberwald. Nachdem er im Fuchsbau nur zwei verdorrte Spinnen und einen faulen Pfirsich gefunden hatte, waren er und sein ächzender Magen auf der verzweifelten Suche nach Nahrung. Was war denn heute im Angebot? Vielleicht die köstliche kleine Haselmaus, die sich gerade durchs Unterholz wühlte? Oder der hübsche braune Hase mit den saftigen Hinterläufen, der dort vorn über den Waldweg hoppelte? Nein, ausgeschlossen, die waren beide viel zu schnell für ihn. Zum Jagen fehlte es Listig an der nötigen Kraft. Schließlich lag seine letzte Mahlzeit schon sechs Stunden zurück. Aber etwas zu Futtern musste her, ganz egal was. Sein knurrender Magen pochte darauf. Also schleppte sich der Fuchs durch die Büsche. Vielleicht fand er wenigstens einen Pilz. Es musste ja nicht unbedingt Fleisch sein, vor allem nicht, wenn das Fleisch Pfoten hatte, auf denen es vor ihm weglaufen konnte. Na wer sagt’s denn. Genau vor ihm stand ja ein besonders schöner Birkenpilz. Komisch! Normalerweise hätte sich Listig über einen Pilz nicht so gefreut, aber der Hunger schraubte seine Ansprüche nach unten. Gerade wollte sich der Fuchs über seinen glücklichen Fund hermachen, als er das Türschild las: „Hier wohnt Familie Schnecke“, stand da geschrieben. Nein! Ausgerechnet diesen verflixten Pilz musste er finden. Listig überlegte: „Sprechende Schnecken zum Frühstück? Igitt! Die Schnecken aus den Pilz schmeißen? Zu anstrengend.“ Er warf noch einen letzten traurigen Blick zurück und sagte: „Da muss ich mir eben einen anderen Pilz suchen. Irgendwo wird schon noch einer stehen." Listigs Magen war davon allerdings nicht überzeugt. Er revoltierte und tat lautstark kund, dass er diesen Birkenpilz - Schnecken hin, Schnecken her - durchaus zu sich genommen hätte. Und so streiften die beiden verdrießlich durch den Wald. Listig brummte, sein Magen knurrte. Sie waren ein tolles Team. „Gib endlich Ruhe“, murrte der Fuchs, nachdem er von seinem Magen gehört zu haben glaubte: „hab’ ich’s nicht gesagt, den Birkenpilz hätten wir uns einverleiben sollen. Aber nein, du wusstest es ja wieder einmal besser. Du mit deinen ewigen Versprechungen.“ Listig schlug den Weg zur Waldlichtung ein. Was blieb dem Fuchs auch anderes übrig, als sich an ein paar Waldbeeren satt zu fressen. Die Waldbeeren hatten zwei Vorteile. Erstens und das war der alles Entscheidende: Sie rannten nicht weg. Und zweitens, von ein paar Himbeerkäfern einmal abgesehen, waren sie gänzlich unbewohnt.

Listig fand drei große Himbeersträucher. „Was ist denn mit euch los? Wieso sind eure Beeren nicht rot und saftig?“, fragte er und schaute missmutig auf die kleinen grünen Früchte, die daran hingen. „Weil die Waldbeerenschmetterlinge noch nicht bei uns waren. Deshalb sind wir in den Streik getreten. Denn ohne Besuch keine reife Frucht!“ Der Fuchs sagte nichts und trottete weiter. Wenn die eingebildeten Himbeersträucher erst die Schmetterlinge brauchten, konnten sie ihm gestohlen bleiben. Es gab ja noch andere Waldbeeren. Er stattete den Heidelbeeren einen Besuch ab. „Was ist denn hier passiert?“, fragte Listig die beiden Sträucher, die voller kleiner grüner Früchte hingen. Er ahnte allerdings schon, was sie sagen würden. Sein Magen rumorte unaufhörlich, als sie lautstark skandierten: „Wir Streiken und denken gar nicht daran unsere Früchte reifen zu lassen. In diesem Jahr waren die Waldbeerenschmetterlinge noch nicht bei uns. Und deshalb sagen wir: Ohne Besuch keine reife Frucht!“ Der Fuchs brummelte: „Hab ich schon mal gehört“, und schlich davon. Listig war wütend. Schon über eine Stunde war er durch den Wald gestreift. Und was hatte er davon? Maus und Hase nicht gekriegt, den Birkenpilz mit Schneckenfüllung nicht gewollt und reife Himbeeren und Heidelbeeren nicht gefunden. Aber es gab ja noch die Brombeersträucher. Vielleicht legten sie ja keinen so großen Wert auf die Schmetterlinge.

Doch als er zu den Brombeersträuchern kam, sah er auch hier nur grüne kleine Beeren. „Weiß schon, keine Schmetterlinge!“, maulte er. „Ja, sie waren noch nicht da und ohne sie werden unsere Früchte nicht reif. Bei uns stehen die Zeichen auf Streik. Unser Motto lautet: Ohne Besuch keine reife Frucht!“ „Also darauf wäre ich jetzt nicht gekommen“, sagte Listig verstimmt und trottete zusammen mit seinem knurrenden Magen, der ihm inzwischen immer heftigere Vorhaltungen machte, zum Zwergenhaus.

„Hallo, Listig“, rief Pünktchen erfreut, als es den Fuchs sah. „Hallo, Pünktchen, schön dich zu sehen“, begrüßte er das sanfte Reh und gab ihm einen freundlichen Stups mit seiner Nase, „ist Puh zu Hause?“ „Na klar, er ist gerade beim Frühstück.“ „Frühstück? Das klingt gut.“ „Hattest du noch keins?“ „Wie man’s nimmt. Auf dem Weg hierher habe ich noch etwas Baumrinde verdrückt.“ Pünktchen blickte ihn voller Mitgefühl an: „Dann klopfe doch mal. Bestimmt gibt dir der Zwerg ein Stück Kuchen ab.“ „Hoffentlich“, seufzte Listig und klopfte an die Tür. Puh sprang von seinem Stuhl hoch und öffnete. „Guten Morgen, Fuchs Listig, was führt dich zu mir?“ „Mein Hunger. Ich wollte mir zwar im Wald etwas zu futtern suchen. Aber wie du hörst, ist es mir nicht gelungen.“ Sein Magen ließ ein lautstarkes Knurren vernehmen. „Zum Jagen war ich nicht in der richtigen Verfassung, auf der Suche nach einem schmackhaften Pilz fand ich nur den, in dem die Schnecken wohnen und als ich ein paar Beeren naschen wollte, war nicht eine reif.“ „Nicht reif? Die Beeren? Um diese Zeit? Warum denn das?“, der Zwerg war überrascht. „Das kann ich dir sagen. Die Waldbeerenschmetterlinge haben die Sträucher nicht besucht und deswegen sind sie in den Streik getreten. Achtung, ich zitiere: Ohne Besuch keine reife Frucht! Nun würde ich mir diese Schmetterlinge ja gern einmal gründlich vorknöpfen, aber das geht nicht, weil ich nun einmal nicht weiß, wo sie herumschwirren. Und selbst wenn ich es wüsste, könnte ich nicht zu ihnen gehen, da ich vor lauter Hunger viel zu geschwächt bin.“ „Und ich habe die Lösungen für deine Probleme. Ich weiß nämlich, wo die Schmetterlinge stecken. Na ja, zumindest, wo sie bis vor einem Jahr gesteckt haben. Aber zuerst einmallade ich dich auf ein köstliches Stück Apfelkuchen ein. Nach dem Frühstück suchen wir gemeinsam die Waldbeerenschmetterlinge.“ Das ließ sich Listig nicht zweimal sagen. Und auch sein Magen gab mit einem lauten Knurren sein Einverständnis. Der Fuchs setzte sich zum Zwerg an den Tisch und sie machten sich über den noch warmen Apfelkuchen her. „Satt?“, fragte Puh Verzweifelt. Der Fuchs nickte. Der Zwerg räumte fassungslos den restlos leeren Teller in die Spüle. Nicht einen Krümel hatte der Fuchs zurückgelassen. Hatte Puh ihn nicht zu einem Stück Kuchen eingeladen?

„Wo wollt ihr beide denn hin?“, fragte Pünktchen interessiert, als Puh und Listig in den Garten hinaustraten. „Zu den Waldbeerenschmetterlingen“, sagte der Fuchs. „Wer ist denn das?“ „Sie sorgen jedes Jahr dafür, dass die Beeren des Zauberwaldes reifen, damit du sie dann naschen kannst“, erklärte Puh. „aber nur, wenn sie’s nicht vergessen, wie in diesem Jahr“, ergänzte Listig, der immer noch wütend war. „Och bitte, bitte nehmt mich mit. Ich möchte die Schmetterlinge so gern sehen. Darf ich?“ „Wenn du möchtest, darfst du mitkommen“, meinte Puh. „Au fein!“, freute sich das Reh. „Wie sieht es denn mit meinem kleinen blau gefiederten Freund aus“, wollte der Zwerg wissen. „Ich bin hier“, rief Zwitschi und segelte vom Lindenbaum. „Darf ich etwa auch mitkommen?“, fragte er aufgeregt. „Natürlich, sonst platzt du ja noch vor Neugier.“ „Gar nicht wahr“, beteuerte Zwitschi. „Dann bleibst du also in meinem Garten?“, Puh war erstaunt. „Bloß nicht. Wenn ich nicht mit euch komme, wer weiß, vielleicht verlauft ihr euch noch.“ „Unter diesen Umständen können wir wohl gar nicht auf dich verzichten?“, fragte Pünktchen. „Genau“, sagte Zwitschi und warf stolz das hübsche Köpfchen in den Nacken.

Schon nach einer halben Stunde Weges erreichten die Vier eine versteckt liegende Lichtung. Herrliche Blumen standen dort in den strahlendsten Farben und dufteten betörend. Puh schnupperte fast an jeder einzelnen Rose, küsste sanft die zarten Blütenblätter und lächelte verträumt. Auch Pilze gab es hier in Hülle und Fülle. Sie lugten zwischen den hohen Gräsern hervor und streckten ihre Hüte stolz in die Sonne. Rings um einen Springbrunnen aus weißem Marmor war ein reicher Kräutergarten angelegt worden, in dem die saftige Petersilie in großen Büscheln gedieh und der Dill kräftig spross. Und mitten auf der Lichtung, umringt von Farnen und Moosen, stand eine kleine mit Stroh gedeckte Hütte. „Hier wohnen also die Waldbeerenschmetterlinge“, erklärte Puh und ließ seine Blicke träumerisch umherschweifen. „Ach, wie wunderschön sie ist“, Zwitschi roch versonnen an einer himmelblauen Orchidee, die er heimlich „die zauberhafte Zwitschi“ nannte, und schenkte dem Wichtel keinerlei Beachtung. Da riss Listig der Geduldsfaden: „Kommt, lasst uns endlich anklopfen“, drängelte er und lief zur Tür. Die anderen erwachten aus ihren Träumereien und folgten ihm. „Wir brauchen nicht zu klopfen, seht nur, da ist eine Glocke“, rief Zwitschi begeistert und zog daran. Die Tür öffnete sich von selbst und mit einem lauten „Hatschi“ kam ein Schmetterling heraus. „Guten Tag“, sagte er verschnupft, „ich heiße Rosenzart, was möchtet, hatschi, ihr?“ „Gesundheit Rosenzart, wir wünschen uns, dass ihr Schmetterlinge die Waldbeeren besucht. Sie sind in den Streik getreten und werden nicht reif, weil ihr noch nicht bei ihnen wart“, erklärte Puh. „Hatschi, das ging noch nicht, hatschi, wir, hatschi, sind alle krank“, antwortete der Schmetterling. „Da hilft nur noch die Honigkur“, stellte Puh fest. Der Zwerg kannte sich mit dem Schmetterlingsschnupfen bestens aus. Schließlich war es höchstens sieben Jahre her, als diese Krankheit schon einmal im Wald umgegangen war. Deshalb sagte er: „Listig, würdest du bitte zum Bienenstock hinübergehen und die Bienen um etwas Honig bitten?“ „Natürlich“, sagte der Fuchs und schnappte nach dem gelben Eimerchen, das da neben der Regentonne stand. „Rosenzart, hole bitte die anderen Schmetterlinge heraus, frische Luft tut ihnen gut“, sprach Pünktchen. „Hatschi, bist du si..., hatschi, sicher?“ „Ganz sicher.“ „Dann hole ich sie.“ Der Schmetterling flog in die Hütte zurück. „Kommt, Veilchenblau, hatschi, Tulpensanft, Nelkenschön, Narzissenweiß, hatschi, Kornblu..., hatschi, Kornblumenhübsch, Schneeglöckchensüß! Fliegt nach draußen an die frische Luft, die Waldbewohner wollen uns helfen.“ Ein einziger Haufen Hatschi verließ die Hütte. „Hoffentlich stecken die uns nicht an“, maulte Zwitschi. „Bei so einem Riesenhatschi kitzelt es mir auch gleich im Schnabel.“ Auch Pünktchen war verunsichert. Das Reh hatte nie damit gerechnet, dass eine derart kleine Schar, so gewaltig niesen konnte. „ich hätte sie doch nicht herausjagen sollen. Wenn ich geahnt hä..., hä..., hatschi“, nieste es zur Bekräftigung. „Gesundheit“, wünschte Puh, der mit ein paar kleinen Stöckchen aus dem Gebüsch gekrochen war. „Was willst du denn damit?“, fragte Tulpensanft vorsichtig. „Euch den Honig verabreichen“, sagte Puh. Veilchenblau und Schneeglöckchensüß hatten sich vor Schreck hinter einer Sonnenblume versteckt. „Husch raus da“, Zwitschi trieb sie auf Puh zu. „Nicht schon wieder Honig mit Pfeffer und Thymian. Der ist fürchterlich!“, protestierten sie. „Aber er macht euch gesund“, sagte Puh. „Hatschi, ha..., ha..., ha..., ich fühl’ mich bereits kernge..., hatschi, ...sund“, beteuerte Schneeglöckchensüß. „Genau so klingt es“, spottete Zwitschi. „Wo dieser Listig nur bleibt“, Puh war ein wenig ratlos. Es waren doch höchstens zwei Minuten bis zum Bienenstock und er hatte dem Fuchs den Weg doch gezeigt. „Der hat bestimmt unterwegs alles aufgenascht. Der verfressene ...“ Das letzte Wort blieb dem kleinen blauen Vogel im Halse stecken. Listig betrat mit dem gelben Eimerchen im Fuchsmaul die Lichtung.

Die Versorgung der Patienten konnte beginnen. Puh ließ die Pfeffermühle über dem Eimer kreisen und gab noch drei Esslöffel gemahlenen Thymian dazu. Dann tauchte er die Zweige in den Eimer und ließ die Schmetterlinge den Honig davon abschlecken. Man sah ihnen an, dass das kein Vergnügen für sie war. „Und morgen komme ich wieder“, sagte Puh. „Nicht nötig, es wird sch..., ha..., ha..., hatschi schon besser“, sagte Veilchenblau. „Ich hab’s gerade gehört“, flötete Zwitschi. Die Schmetterlinge versuchten es immer wieder. Aber das würde er, der kleine Vogel, wohl auch tun. Den Eimer räumte Puh in die Hütte. Die Schmetterlinge würden es nicht schaffen, ihn umzustoßen, geschweige denn ihn zu verstecken. Sie konnten also ganz beruhigt nach Hause gehen.

„Ich komme morgen auch wieder mit. Wer außer mir würde sonst hören, ob die Schmetterlinge wirklich gesund sind“, erklärte Zwitschi, der seine „Zauberhafte Zwitschi“ unbedingt mit einem silbernen Schleifchen schmücken wollte. „Ich will auch mit“, sagte Pünktchen, das von der saftigen Petersilie genascht hatte, „schließlich muss ich aufpassen, dass Puh jedem Schmetterling seinen Honig verabreicht.“ „Ist schon gut, ihr zwei seid mit von der Partie“, sagte der Wichtel, „und Listig? Was ist mit dir?“ „Ich bleibe lieber zu Hause. Hier gibt es nichts anständiges zu futtern“, sagte der Fuchs und sah verdrießlich zu den großen rot und rosa leuchtenden Gladiolen hinüber. Die anderen drei lachten.

Nach fünf Tagen tat sich etwas im Wald. Die Himbeersträucher ließen die ersten hellroten Beeren in die Sonne blinzeln. Die Heidelbeeren wuchsen und die Brombeeren auch. Bald würde es eine reichliche Ernte geben. Puh und seine Freunde hatten die Schmetterlinge gesund gepflegt. Welch ein Glück!