Stachelchen, wo bist du?

„Guten Morgen Pünktchen“, sagte Puh fröhlich. Das Reh lag unter der Kastanie im Zwergengarten und schlief fest. Der Zwerg ging zu ihm, streichelte über das weiche Fell und versuchte es noch einmal: „Aufstehen, Schlafmütze!“ Das Reh schnarchte unbeirrt weiter und dachte nicht daran die süßen Träume zu verjagen. Der Zwerg zupfte es sanft am Ohr. „Was ist denn los?“, gähnte Pünktchen missmutig. „Erinnerst du dich nicht? Gestern Abend hast du mir versprochen, dass du mich zu meinem Koboldfreund Wuschel bringst.“ „Was hab' ich?“, fragte das Reh schlaftrunken. „Du sagtest, du bringst mich zu Wuschel.“ „Da muss ich schon geschlafen haben. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ „Ich hab's auch gehört“, mischte sich Zwitschi, der kleine blaue Vogel ein, der das Gespräch der beiden belauscht hatte. „Wenn ich's versprochen habe, dann muss ich wohl“, sagte Pünktchen und hob träge den Kopf. Puh kletterte auf seinen Rücken und das Reh stand auf. Der Zwerg hatte sich einen großen Strohhut aufgesetzt und den Wünschelbesen daran befestigt. Zwitschi saß hoch oben im Pflaumenbaum und frühstückte. Er schmunzelte über Puhs merkwürdigen Aufzug, verbiss sich aber einen Kommentar. Immer noch herzhaft gähnend setzte Pünktchen einen Fuß vor den anderen. Der kleine Vogel überlegte: „Schläft das Reh beim Gehen oder geht es beim Schlafen?“ Er kam zu keinem Ergebnis. Während Puh seinen Koboldfreund besuchte, kam bei den anderen Waldbewohnern keine Langeweile auf. Das Reh Punktinchen, der Kauz Willy, die Eule Agathe, die Krähe Gundula, die drei Hasenkinder, das Eichhörnchen Hüpf, der Igel Stachelchen, Fuchs Listig und Zwitschi trafen sich zu lustigen Spielen auf der Waldwiese. „Ich möchte Blätterjagd spielen“, schlug Willy vor. „Nicht den Mist“, maulte Listig, „da kommt man immer so schnell aus der Puste.“ „Was ist denn Blätterjagd?“, fragte Gundula neugierig. "Blätterjagd ist ein Sportspiel", erklärte Willy, "die Mitspieler bilden einen Kreis. Einer von ihnen befindet sich aber außerhalb des Kreises. Er flitzt oder fliegt um die anderen herum. Hinter einem von ihnen lässt er ein großes Blatt fallen.“ „Aber derjenige kann doch gar nicht sehen, dass hinter ihm ein Blatt liegtwarf die Krähe dazwischen. „Ja, ja", stimmte ihr der Kauz zu, "aber er darf sich umdrehen, sobald er merkt, dass der Blätterwerfer an ihm vorbeigehuscht ist." "Und dann?", fragte Gundula weiter. "Liegt das Blatt tatsächlich hinter ihm, jagt er dem Blätterwerfer nach. Wer von den beiden zuerst das freie Plätzchen im Kreis erreicht hat, kann sich dort hinstellen. Der andere muss kreiseln." Die Krähe schmunzelte zufrieden. Sie wusste, dass sie eine der Schnellsten war und jeden von ihnen abhängen konnte. Das würde eine sehr geruhsame Sportstunde für sie werden, denn die anderen wussten das auch. Der Vorschlag des Käuzchens wurde angenommen. Nach einer halben Stunde bereute ihn Willy bitter. Er war viele Runden um die anderen herumgekreiselt. Immer wieder hatten sie ihn erwischt. „Lasst uns damit aufhören“, keuchte er, „das Spiel ist doch Mist.“ „Gut“, sagte Hüpf, „was haltet ihr von Märchenraten.“ Ein Sturm der Begeisterung brach los. Die Waldbewohner liebten Märchen. Schnell waren sie sich einig. Die Hasenkinder spielten ein Märchen vor, ohne dabei zu sprechen und die anderen mussten es erraten. Wer die meisten Märchen wusste, gewann das Spiel. An diesem Tag war es Hüpf. „Ach Hüpf, nun hören wir auf. Es macht keinen Spaß mehr, wenn du schon nach zehn Sekunden schreist: Ich weiß es“, jammerte Zwitschi. „Wenn ihr es mir aber auch immer so einfach macht“, verteidigte sich das Eichhörnchen. „Uns fällt kein einziges Märchen mehr ein“, sagten die Hasenkinder. „Ach schade“, meinte Hüpf, der jeden Abend in seinen Märchenbüchern las und daher so viel wusste. „Lasst uns etwas anderes spielen“, schlug Gundula vor. „Oh ja“, jubelten alle, außer dem Eichhörnchen, das ein wenig sauer war, weil es im Märchenraten so gut Bescheid wusste. „Kopfrechnen“, warf Listig in die fröhliche Runde. „Och nö“, maulte Zwitschi, der nicht zu den schnellen Rechnern gehörte. Er war ja schon froh, wenn er wusste, dass keine Sonnenblumenkerne mehr übrig waren, wenn er alle auffraß. Doch er war überstimmt. Die ganze Zeit über musste Zwitschi am selben Platz stehen bleiben, denn man durfte nur weiterrücken, wenn man eine Aufgabe richtig gelöst hatte. Fuchs Listig war als Erster an der alten Eiche: „Ich hab' eben Köpfchen“, prahlte er. „Hab' ich auch“, rief Zwitschi böse. „Dann benutz es zur Abwechslung doch mal“, sagte der Fuchs unbeeindruckt. Endlich hatte Punktinchen Mitleid. „Wie wäre es, wenn wir Liederraten spielen“, schlug das Reh vor. Es hatte nämlich bemerkt, dass Zwitschi immer ungeduldiger geworden war und dass sich seine schöne rosa Schmuckfeder vor Wut weinrot gefärbt hatte. „Gute Idee“, sagte Gundula, „vom Aufgabenstellen wird mir schon langsam der Schnabel heiß.“ Und auch die anderen waren sofort Feuer und Flamme, nur Willy nicht. Erstens wollte er gern den zweiten Platz erkämpfen und zweitens grübelte er darüber nach, wie viele Aufgaben noch gestellt werden mussten, bis Zwitschi endlich eine lösen konnte. Das schaffte ihn so sehr, dass er sich doch lieber zum Musik-Ratespiel hinreißen ließ. „Ich hab's nicht rausgefunden, die Wahrscheinlichkeit, dass Zwitschi mal was richtig ausrechnet, müsste so um die ...“ „Hör endlich mit dem Mathezeug auf, sonst wächst dir noch ein Rechenschieber aus dem Schnabel. Mach lieber was für deine Bildung und rate Lieder“, maulte Zwitschi. Ein jeder zwitscherte, brummte oder blies auf einem Grashalm drei Lieder und die Zuhörer mussten sie herausfinden. Agathe, die kluge Eule, erwies sich als beste. Schließlich leitete sie ja auch den Waldchor. Jetzt wurde es Zeit für eine Stärkung. Sie setzten sich auf die Waldwiese und verputzten die mitgebrachten Leckerbissen. Nach dem Essen ging es mit Stiller Post weiter. Zwitschi, der mit seinen Gedanken wieder ganz woanders war, verstand nur Unsinn und so kamen Wortschöpfungen wie Vogelzeder statt Vogelfeder, Eichenstaub statt Eichenlaub und Hasenfußlauch statt Haselnussstrauch zustande. Alle lachten herzlich, bis auf den kleinen Vogel, der trotzig in die Äste der Eiche flüchtete und nicht mehr mitspielen wollte.

Die anderen hatten auch ohne Zwitschi viel zu lachen. Aber er sollte trotzdem wieder mit von der Partie sein und so schlug Gundula vor: „Wie wäre es mit Verstecken!“ Alle waren begeistert. „Wir bleiben hier auf der Waldwiese. Einer von uns sucht sich innerhalb von drei Minuten ein Versteck und die anderen suchen ihn. Ich sehe hier auf die große Walduhr und so geht es ehrlich zu“, verkündete Agathe. „Darf ich anfangen?“, fragte Schnuffi. „Gut, Schnuffi beginnt“, sagte die Eule und die Zeit für den kleinen Hasen lief. Agathe sah auf die Uhr. Die anderen hatten ihre Augen geschlossen, damit sie nicht sehen konnten, wo sich der kleine Hase versteckte. Schnuffi lief los. Er fand innerhalb kürzester Zeit einen schönen großen Farn. Dort kauerte er sich darunter und wartete. Als die drei Minuten herum waren, teilten sich die Sucher in zwei Gruppen auf und liefen in alle vier Richtungen. „Hilfe! Hiii! Hiii! Hilfe!“, ein gellender Schrei ließ sie Schnuffi schnell finden. Dem kleinen Hasen war eine Spinne ins Ohr gekrochen und er war fürchterlich erschrocken. Als Listig ihn entdeckte, zitterte der arme Schnuffi am ganzen Körper. Der Fuchs streichelte ihm zärtlich mit der Vorderpfote übers Fell und der kleine Hase ärgerte sich, weil er so ängstlich gewesen war.

Nun war Stachelchen an der Reihe. Der Igel wollte es besser machen. Und bald schon hatte er ein wundervolles Versteck gefunden - ein großes Spinatblatt. Darunter hockte er sich und wartete. Die anderen suchten vergebens nach ihm. Sie konnten ihn einfach nicht finden, so sehr sie sich auch mühten. „Ha, ha“, lachte der Igel, „das ist aber schön, dass mich keiner entdeckt.“ Doch bald mischte sich ein tiefes Gähnen in seine Freude und kaum hatte er sich versehen, war er auch schon eingeschlafen. Das viele Spielen hatte ihn müde gemacht. Davon ahnten die Anderen aber nichts. „Stachelchen!“, riefen sie. Immer lauter wurden ihre Rufe, aber der Igel zeigte sich nicht. „Stachelchen, komm raus, du hast gewonnen! Wir können dich nicht finden“, Langöhrchen wollte dem Versteckspiel ein Ende bereiten. Und auch die anderen sahen keinen anderen Weg mehr. „Stachelchen, hier ist gerade ein großer Fliegenschwarm vorbeigekommen. Willst du nicht ein paar davon verdrücken?“, Hüpf wollte ihn mit einem Trick aus dem Versteck locken. „Du hattest deinen Spaß, nun ist es genug. Komm zu uns zurück“, Zwitschi war außer sich und flatterte aufgeregt hin und her. Als sie von Stachelchen nichts hörten, beratschlagten sie sich. „Puh hat doch den Wunderspiegel. Der hilft uns bestimmt“, fiel der klugen Eule ein. Eiligst begaben sie sich ins Zwergenhaus. Und da war er ja schon - der Spiegel. „Lieber Spiegel lass uns wissen, wo Stachelchen geblieben ist“, sprach Gundula. Und bald darauf sahen sie den kleinen Igel und hörten ein zufriedenes Schnarchen. Stachelchen steckte unter einem Spinatblatt. „Gibt es denn auf der Waldwiese Spinat?“, fragte das Käuzchen Willy verwundert. „Muss es wohl“, sagte Agathe, „wir hatten doch ausgemacht, dass wir auf der Wiese bleiben.“ „Stimmt“, pflichtete Zwitschi ihr bei, „und dass ich nicht weiß, wo dieses grässliche grüne Zeug wächst, ist mir klar. Ich kann nämlich Spinat nicht leiden.“ „Ich auch nicht“, sagte Hüpf und die anderen stimmten mit ein. „Holen wir doch Puhs Wünschelbesen“, schlug Willy vor. „Geht nicht“, sagte Zwitschi, „er hat ihn mitgenommen, weil er sonst den Weg zu Wuschel nicht findet.“ „Dann gehen wir eben zu Wuschel“, meinte Hüpf. „Wie denn, ohne Besen?“, fragte Zwitschi. „Zu fuß oder fliegend, mir egal“, sagte das Eichhörnchen. „Keiner von uns kennt den Weg genau, wenn ich mich nicht irre. Lasst uns hier warten, Puh kommt sicher gleich nach Hause“, sagte Zwitschi. Also warteten sie alle in Puhs Garten auf dessen Rückkehr, denn eine bessere Idee hatten sie nicht.

Inzwischen unter dem Spinatblatt: „Ich muss wohl eingeschlafen sein“, gähnte Stachelchen herzhaft. Er guckte sich um und sah, dass es schon langsam dunkel wurde. Der Igel streckte sich genüsslich. Und als er bemerkte, dass die anderen nicht mehr nach ihm suchten, dachte er: „Sie werden die Sucherei aufgegeben haben und sind bestimmt nach Hause gegangen. Das werde ich jetzt auch tun.“ Er rappelte sich hoch und kugelte nach Hause. Dort suchte er sofort sein Bett auf und schlief weiter.

Davon wussten die anderen nichts und als sie Puh endlich kommen sahen, rannten sie ihm entgegen und fragten ihn, wo auf der Waldwiese Spinat wächst. „Am Rand, gleich links von der großen Eiche“, wusste der Zwerg, der das grüne Gemüse liebte. Und ehe er verstand, worum es ging, rannten und flogen die Tiere an ihm vorbei und stürmten auf die Waldwiese zu. Und da war er ja auch schon - der Spinat. Doch als sie jedes Blatt einzeln umgewendet hatten, stellten sie fest, dass ihr Igelfreund nicht darunter saß. Besorgt kehrten sie zum Zwergenhaus zurück und erzählten die Geschichte ihrem Lieblingswichtel. „Wir schauen einfach noch einmal in den Wunderspiegel“, schlug der vor. Und das taten sie auch. Und was sie zu sehen bekamen, beruhigte sie. Der kleine Igel lag friedlich in seinem Bett und schlief. Und genau das wollten sie jetzt auch alle tun. Sie verabschiedeten sich voneinander und gingen in ihre Betten. Und ihr solltet eigentlich auch schon in eures hineingehuscht sein. Ach, ihr steckt schon unter der Decke? Wie wäre es, wenn ihr euch nun in den Zauberwald träumt?