Der Spritzfelsen

Im Zauberwald dämmerte es. Die Nebelgeister tanzten auf der Waldwiese einen lustigen Reigen. Hoch oben in der Luft aber schwebte etwas Kleines, etwas Schmutziges, etwas, das gar nicht zu diesem frischen, jungen Morgen passen wollte. Ach Willy war das. Der Kauz war unterwegs zu seinem geliebten Spritzfelsen. Und das war auch bitter nötig, denn er hatte in der Nacht ein großes Schlammloch übersehen und war kopfüber darin baden gegangen. Fröhlich pfeifend steuerte er seinen Lieblingsplatz im Wald an. Schon von Weitem sah er das weiche Moos, das auf dem Boden davor wuchs. "Oh schön", dachte der Kauz, "zuerst duschen und dann im weichen Moos ein Nickerchen halten." Als er jedoch Näher kam, machte er eine furchtbare Entdeckung. Was war das? Der Felsen sprudelte doch gar kein Wasser mehr. Irrte er sich vielleicht? Das konnte schon sein. Willy dachte bei sich: "Ich habe doch auch das Schlammloch nicht gesehen!" Der Kauz beschloss noch näher heranzufliegen und mahnte sich zur Ruhe. Doch es gelang ihm nicht. Als er beinahe den Wipfel einer Fichte gestreift hätte, sprach er zu sich selbst: "Willy, bleib ruhig und konzentriere dich auf deine Flugbahn. Du musst nicht schon wieder einen Baum rammen. Das ist dir doch erst vor ein paar Stunden passiert, als du der fetten Ratte nachgesetzt hast." Jetzt war er dem Felsen ganz nah. Doch nicht ein einziger Tropfen ließ sich blicken. Willy hatte sich nicht geirrt. Der Felsen sprudelte nicht mehr. Das Käuzchen schluchzte. Wie gern wäre es unter den Wasserstrahlen hindurchgetaucht und hätte seine Federn geputzt. Wie gern hätte es dem Moos ein fröhliches Badelied gesungen. Traurig flog Willy zu seiner Kastanie und setzte sich auf einen Ast.

"Sieh mal Pünktchen", rief Zwitschi am Mittag, "da ist ein großer Dreckhaufen auf Willys Kastanie." "Ach, erzähle nicht so einen Unsinn." "Schau doch hinauf." Und Pünktchen schaute hinauf. "Tatsächlich, da ist ja wirklich ein riesiger Dreckhaufen. Wie ist der wohl auf den Baum geklettert?" "Ich weiß es nicht Pünktchen, aber ich werde der Sache auf den Grund gehen." "Pass auf deine schönen blauen Federn auf", riet ihm das Reh. Zwitschi flog auf die Kastanie. Neben dem Haufen setzte er sich nieder. Doch halt, das war ja gar kein Haufen, eher ein Häufchen - ein Häufchen Elend. "Willy, bist du das?" "Ja, wieso fragst du?" "Ich hätte dich fast nicht erkannt unter dieser Dreckschicht." "Ich wollte meine Federn ja putzen, aber der Spritzfelsen ist kaputt." "Dann nimm doch ein Bad in der Regentonne", schlug Zwitschi vor. "Ich möchte nicht in der Regentonne baden, in der Regentonne ist es nämlich doof!" "Aber manchmal schwimmen dort leckere Mückenlarven herum. Da kannst du sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Du wirst sauber und satt", gab Zwitschi zu bedenken. Das konnte Willy allerdings auch nicht beeindrucken: "Die Regentonne ist trotzdem doof." "Aber Willy, willst du denn so schmutzig bleiben?" "Ja, wenn es sein muss, werde ich unter meiner Schlammkruste hocken, bis der Felsen wieder funktioniert." "Oje, dann fliege ich lieber weit weg von dir, ich habe nämlich keine Pfropfen für meine Nasenlöcher dabei." Der Vogel flatterte auf den Boden.

"Hat der Dreckhaufen da oben gerade wie Willy gesprochen?", fragte Pünktchen erstaunt. "Der hat nicht nur so gesprochen, das ist Willy", erwiderte Zwitschi. "Und du bist sicher, dass wir nicht gerade einem von Puhs Zaubertricks aufsitzen?", das Reh konnte es noch immer nicht fassen. "Wenn ich's dir doch sage. Wieso glaubst du mir eigentlich nicht? Wenn du meine Auskünfte sowieso andauernd infrage stellst, brauchst du mich doch gar nicht erst darum zu bitten", maulte Zwitschi. "Entschuldige, aber so was passt nicht zu Willy, der putzt doch sogar jede Woche seine Fenster", verteidigte sich Pünktchen. "Aber sich putzt er nur unterm Spritzfelsen. Und der sprudelt nicht eine müde Träne." "Oje", stöhnte Pünktchen, das wusste, dass der Kauz ein kleiner Sturkopf war, "dann wird's hier bald ganz fürchterlich stinken." "Bin ich schon gewöhnt. Puh kocht nämlich manchmal Kohlsuppe mit ganz viel Knoblauch", zeigte sich Zwitschi unbeeindruckt. Als das Reh jedoch vorschlug, die Sache mit Puh zu besprechen, war der kleine blaue Vogel einverstanden. Womöglich stank Willy bald schrecklicher als Kohlsuppe. Da durfte er kein Risiko eingehen.

Die beiden klopften ans Zwergenhaus. Puh öffnete die Tür. "Na ihr zwei, was möchtet ihr denn? Ihr wisst doch, dass ich nach dem Mittag immer ein Schläfchen halte." "Wir haben ein großes Problem", begann Zwitschi, "es geht um Willy." "Willy? Er war doch noch nie ein Problem", meinte Puh verwirrt. "Ist er ja auch nicht, noch nicht", erklärte Pünktchen, "Aber solange der Spritzfelsen kein Wasser gibt, möchte Willy sein Gefieder nicht putzen. Und glaub's oder glaub's nicht, eine Dusche hat er schon jetzt bitter nötig. Wenn dieser Felsen nicht bald wieder funktioniert, müssen wir umziehen, denn Willy wird dann ganz furchtbar stinken." "So schlimm wird es schon nicht werden." "Hast du eine Ahnung", seufzte Pünktchen und rümpfte die Nase. "Also gut, ich werde mich darum kümmern. Zwitschi, setze mich bitte auf der Kastanie ab, ich rede mal mit unserem Käuzchen."

Der kleine Vogel flog mit dem Wichtel auf den Baum und setzte ihn bei Willy ab. Der Kauz hatte sein Köpfchen unter die schmutzigen Federn gesteckt und weinte leise vor sich hin. "Hallo, Willy, was macht dich denn so traurig?" "Mein Spritzfelsen ist kaputt. Deshalb kann ich nicht duschen und wenn ich nicht duschen kann, werde ich stinken. Und wenn ich erst einmal stinke, mag mich bestimmt keiner mehr leiden." "Aber Willy, du musst doch nicht stinken! Du kannst doch im Waldsee ein Bad nehmen", schlug der Wichtel vor. "Im Waldsee ist es doof! Entweder dusche ich unterm Spritzfelsen oder ich bleibe wie ich bin", war der Kauz trotzig. "Sei vernünftig, Willy, du kannst doch nicht ewig so schmutzig bleiben. Du machst doch deine ganze Wohnung dreckig." "Ich werde meine Wohnung nicht mehr betreten, solange ich nicht schön geputzt bin." "Wie wäre es, wenn ich den Gartenschlauch anstelle und du gemeinsam mit Zwitschi unterm Wasserstrahl durchspringst. Ich garantiere dir, das ist besser als jeder Spritzfelsen." "Was hab' ich denn schon wieder falsch gemacht?", tönte der kleine blaue Vogel von unten. "Nichts", rief Puh zu ihm hinunter. Aber Zwitschi brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn Willy lehnte Puhs Vorschlag prompt ab: "Kommt überhaupt nicht infrage! Der Wasserschlauch ist auch doof und kann sich ohnehin nicht mit meinem Spritzfelsen messen", maulte er. "Und was ist mit dem Springbrunnen?" "Springbrunnen? Der ist ganz doof. Ich will das alles nicht. Ich will nur meinen geliebten Spritzfelsen, verflixt und zugefedert. Bitte lass mich allein." "Gut, ist vielleicht auch besser so. Womöglich wirst du bald von hunderten Fliegen umlagert sein, weil die denken, du bist ein alter Käse." Der Zwerg rief Zwitschi und sie flogen hinunter in den Garten. Jetzt konnten sie nur noch abwarten. Der Kauz würde sich schon wieder beruhigen und sein Gefieder putzen.

Da irrten sie sich aber. Willy blieb so schmutzig wie er war. Zwar unternahm er unzählige Ausflüge zum Spritzfelsen, Aber sie waren alle nicht von Erfolg gekrönt. Und so ging es lange fünf Tage. Tagein, tagaus saß der Kauz auf seiner Kastanie und blickte traurig umher. Das bedrückte Zwitschi, Pünktchen und Puh sehr. Aber nicht nur das. Willy begann langsam zu stinken. Und immer wenn einer der Drei unter der Kastanie durchging, verfolgte ihn ein merkwürdiger Duft. Puh hatte es jetzt endlich satt. Er fragte Pünktchen und Zwitschi um Rat. "Wir ziehen um und ich weiß auch schon wohin", sagte der kleine Vogel. "Da bin ich aber gespannt", meinte Puh. "Da kommst du nie drauf. Wir ziehen außer Riechweite. Natürlich müssen wir darauf hoffen, dass Willy inzwischen an seinem Ast angetrocknet ist und sich nicht mehr von der Stelle rühren kann", meinte der Vogel, "und übrigens Puh, ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich habe nämlich immer gedacht, der unangenehmste Geruch strömt mir aus deinen Gummistiefeln entgegen." "Vielen Dank Zwitschi!", sagte der Zwerg erbost. Das Reh dagegen sprach: "Wir sollten etwas Sinnvolles unternehmen. Deshalb war ich auch überrascht, dass du Zwitschi überhaupt gefragt hast. Am besten, du zauberst die Badewanne in den Garten. Ich werde Agathe informieren und sie um Hilfe bitten." "Gute Idee, sie könnte den Gestank für uns wegschnüffeln, aber was soll die Wanne dabei?", fragte Zwitschi. Pünktchen warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Der Zwerg ignorierte den kleinen blauen Vogel und sagte: "In Ordnung, ich werde die Wanne herbeischaffen und vertraue dann auf dich und die Eule." "Und ich mache mich auf den Weg. Ach Puh, vergiss das Apfelschaumbad nicht." "Und ich?", fragte Zwitschi, "ich weiß, ich werde die Überwachung des Projektes übernehmen. Solche verantwortungsvollen Aufgaben kann man nur echten Profis überlassen." Er setzte sich in die Zweige der Linde und sah Puh beim Zaubern zu.

"Wanne komm heraus in uns'ren Garten
Der Schmutzkauz wird schon auf dich warten
Und fülle dich mit warmem Nass
Das wird ein toller Badespaß
Nun Apfelschaumbad noch hinein
Dann dürftest du schon fertig sein."

Die Wanne fuhr in den Garten, prall gefüllt mit warmem Wasser und großen Schaumbergen. Nun gab es nur noch ein Problem, wie würden sie Willy da hineinbefördern? Aber als der Zwerg Pünktchen mit einer ganzen Schar Waldvögel sah, wusste er Bescheid. Die bunt gefiederten Piepser flogen auf Willys Kastanie und jagten den Kauz in die Badewanne. Der fand das gar nicht so schlecht, denn langsam aber sicher konnte er sich selbst nicht mehr riechen. Munter huhend ließ er sich einseifen. "Schön von euch, dass ihr so um mich besorgt wart", freute sich der Kauz. "Um dich besorgt?", lachte Puh, "wir waren viel mehr um uns besorgt, du hast ganz schrecklich gestunken. Wir haben es nicht mehr ausgehalten." "Tut mir leid", entschuldigte sich Willy, "aber ich habe nun mal einen großen Dickkopf." "Das haben wir gerochen", grinste Zwitschi. Die Eule Agathe hatte dem Kauz aber noch etwas Wichtiges zu sagen. "Hör mal zu Willy, dein geliebter Spritzfelsen wird in zwei Tagen wieder sprudeln. Die Hirsche, die dort das Wasser pumpen, waren für ein paar Tage verreist." "Oh schön, oh schön!" "Aber versprich uns bitte eines, wenn die Hirsche das nächste Mal Ferien machen, badest du hier", forderte Puh. "Ganz fest versprochen", strahlte Willy und tauchte in den Schaumkronen unter.