Schulstress

Ein leichtes Lüftchen wehte durch den Zauberwald und ließ die bunt gefärbten Blätter tänzelnd von den Bäumen schweben. Es roch herrlich nach dem frisch gefallenem Herbstlaub. Puh hatte sich zusammen mit seinem Koboldfreund Wuschel und dem Reh Pünktchen auf die Suche nach Pilzen begeben. Vielleicht stand ja noch der ein oder andere köstliche Hallimasch irgendwo verborgen. Das Reh konnte dem Hallimaschgenuss zwar nicht viel abgewinnen, es mochte nämlich nur Pfifferlinge. Dennoch freute sich Pünktchen über diesen kleinen Ausflug mit den beiden Wichteln, weil es dabei so herrlich im Herbstlauf rascheln konnte. Vielleicht hatten sich sogar ein paar Eicheln zwischen den Blättern versteckt. Und falls nicht, dann war das auch nicht weiter schlimm. Denn wenn das Reh das Pilzkörbchen sicher ins Zwergenhaus brachte, hatte ihm Puh ein frisches Kräutersträußchen aus seinem Küchengarten versprochen. Und das ließ sich hören.

Im Zwergenhaus schoss der Kuckuck aus der Kuckucksuhr und meldete die achte Stunde des Tages. Zwitschi fuhr aus seinem Schlafkörbchen hoch und sah benommen auf das Kuckuck schreiende hölzerne Plärrding im Vogelhäuschen der Wanduhr: „Um acht sagst du ist es jetzt? Wieso meldest du dich nicht schon seit um sieben jede viertel Stunde! Das ist doch die Aufgabe eines verlässlichen Uhrenkuckucks im Zauberwald“, motzte der kleine blaue Vogel. „Hab’ um sieben kurz aus meiner Tür geseh’n, da war’s mir zu dunkel zum Uhrzeit kräh’n“, antwortete der Kuckuck. „Und wie wär’s mit viertel nach sieben, halb acht oder viertel vor acht gewesen?“, fragte Zwitschi kritisch nach. „Da hab’ ich wohl geträumt, das hab’ ich glatt versäumt“, sprach der Kuckuck und schlug sein Türchen wieder zu. „Warte du Lümmel! Das kannst du doch nicht mit mir machen! Was denkst du dir eigentlich dabei?“, war der kleine blaue Vogel erbost und hämmerte mit dem Schnabel gegen die Haustür des Kuckucks. Doch der scherte sich mit keiner seiner hölzernen Federn darum. „Verflixt und zugefedert. Nun komme ich deinetwegen zu spät in die Waldschule. Der Unterricht hat um Punkt acht begonnen. Was glaubst du, was ich mir jetzt wieder alles anhören darf! Und auf so eine alte Trantute wie dich habe ich mich verlassen“, schimpfte der Vogel und schaute die Uhr vorwurfsvoll an. Der Kuckuck ließ sich nicht mehr blicken. Ihm schien Zwitschis Schulbildung an der Schwanzfeder vorbeizugehen. Sicherlich lag er längst schon wieder auf seinem Sofa und las die Holzwürmer aus seinem Gefieder. Hektisch kramte der kleine Vogel nach einem schnellen Frühstück. Im Schrank fand er eine große Tüte Sonnenblumenkerne. In der Eile fraß er ein paar Kerne heraus, war dabei aber so hastig, dass er die Tüte umwarf. In seiner Not lehnte sich der kleine Vogel mit seinem ganzen Gewicht gegen die Schranktür. Diese fiel zu, bevor die ersten Kerne in die Küche kullern konnten. „Kuckuck“, meldete sich die Kuckucksuhr. Es war viertel nach acht. Der Vogel zuckte erschrocken zusammen: „Jetzt tust du wieder so, als könntest du kein Wässerchen trüben!“ Der Kuckuck packte hastig seine Tür. „Warte mal, wir beide haben da noch was zu besprechen“, schrie Zwitschi voller Zorn. Doch der Kuckuck hatte die Tür schon längst wieder hinter sich zugeschlagen. Der machte es sich ganz schön einfach. Ach, wieso hatte Zwitschi Puh in der letzten Woche nur ständig vollgemuffelt, wenn der ihn für die Schule geweckt hatte. Immerhin war er dank Puhs selbstlosen Einsatz nicht mehr zu spät gekommen. Sicherlich hatte der Wichtel heute keine Lust auf Zwitschis andauerndes Gezeter verspürt. Und nun hatte er die Quittung erhalten. Puh hatte ihn einfach weiterschlafen lassen und freute sich wahrscheinlich schon diebisch auf das prompte Zu-spät-kommen seines blau gefiederten Mitbewohners.

„Hoffentlich hat Willy auch verschlafen“, dachte Zwitschi bei sich, als er in den Zwergengarten stürzte. Wenn er nicht der Einzige war, der wieder mal zu spät kam, würde sich die daraus resultierende Standpauke auf zwei Schüler der Waldschule verteilen. Geteiltes Leid ist schließlich halbes Leid. Doch als der kleine blaue Vogel ins Kauzennest lugte, war keine Feder mehr zu sehen. Natürlich! Willy saß sicherlich schon auf seinem Platz, hatte selbstverständlich seine Hausaufgaben gewissenhaft und geradezu vorbildlich erledigt und ganz bestimmt auch für die Waldkundearbeit gelernt und seine zwei Bleistifte ordentlich gespitzt. Zwitschi entfuhr ein gequälter Seufzer. Wieso konnte er nicht so ein Musterschüler wie Willy sein? Manchmal wünschte er sich, dass er für einen einzigen Tag mit seinem Kauzenfreund tauschen konnte. Puh und die Eule Agathe würden ihn loben, die anderen würden ständig bei ihm abschreiben wollen ... Aber wozu das alles? War es nicht viel aufregender von einem Fettnapf in den nächsten zu tappen und sich eine Zurechtweisung nach der anderen einzuhandeln? Aber vielleicht war so viel Aufregung gar nicht so gut. Diese Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, während er sich der Schule näherte.

Zwitschi landete vor dem Schulgebäude. Die Schuluhr zeigte halb neun. Oje, eine halbe Stunde Mathe hatte er versäumt. Hoffentlich war es der Teil, in dem die anderen eine von Puhs gefürchteten Kurzkontrollen geschrieben hatten. Dann blieb ihm das wenigstens erspart. Zwitschi flog durch ein gekipptes Flurfenster ins Schulgebäude. Es war ganz still hier draußen auf dem Flur. Nur eine Biene summte fröhlich um die lachsfarbenen Blüten des großen Hibiskus herum. Zwitschi blieb eine Weile auf dem Fensterbrett hocken. Auf der anderen Seite hatte eine Orchidee ihre erste violette Blüte geöffnet. Die Hasenkinder kümmerten sich wirklich ausgezeichnet um die Schulpflanzen. Das musste Zwitschi anerkennen. Wehmütig sah der kleine Vogel zu der Biene hinüber, die gerade auf einer der Hibiskusblüten Platz genommen hatte: „Du hast es gut, du musst jetzt nicht in dieses Zimmer und dir eine einigermaßen gute Ausrede ausdenken. Die Kuckucksgeschichte ist viel zu schräg, Puh glaubt mir im Leben nicht, dass dieser Holzkopf um acht Uhr das erste Mal an seine Pflichterfüllung gedacht hat. Vielleicht versuch’ ich’s besser mit verflogen ...“, stöhnte der Vogel und schob die Tür des Klassenzimmers auf. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin, aber ...“, begann Zwitschi, bis ihm klar wurde, dass ihm keiner zuhörte. „Wo sind sie denn alle hin?“ Der kleine blaue Vogel staunte. Er setzte sich auf das Lehrerpult und sagte: „Ist doch nicht so schlimm, lieber Zwitschi. Ich freue mich, dass du dich überhaupt noch auf den Weg zur Schule gemacht hast. Du bist ja eigentlich so ein schlaues Kerlchen, dass ich dir gar nichts mehr beibringen kann.“ So das wäre erledigt. Er hatte sich für seine Bummelei entschuldigt und sich sein Zu-spät-kommen verziehen. Zwitschi wusste, dass ihm das herzlich wenig nützte.

Jetzt blieb ihm nur noch der Flug ins Lehrerzimmer. Vielleicht konnte ihm dort einer sagen, wo der Rest der Klasse mit Puh hingegangen war. Und dieser eine würde wahrscheinlich Agathe sein. „Bitte, bitte, lass sie einen guten Tag haben, sonst muss ich auch noch nachsitzen“, flehte er innerlich und schob die Tür zum Lehrerzimmer auf. Nichts! Niemand anwesend! Was war denn heute bloß los? Wo steckten sie alle? Beim Eicheln sammeln? Aber nein, das konnte nicht sein. Wenn in der ersten Stunde Mathe auf dem Plan stand, würde Puh nicht den ganzen Unterricht umkrempeln. Wozu auch? Er legte großen Wert auf die Rechnerei. Das galt offenbar nur nicht für sein Zaubergebräu, wenn es manchmal auf die Dosierung von Schießwurz und Puffpulver ankam. Zwitschi verstand zwar nicht warum, tat es aber als eines der Dinge ab, das nur Wichtel begriffen. Was lag denn hier so unbeachtet auf dem Tisch? Oh, nein. Das waren ja die Mathekontrollen vom letzten Mittwoch - und zwar korrigiert. Mit seinem Schnabel wühlte sich Zwitschi durch die Zettel. Hier war ja sein Werk. Nicht schon wieder eine Fünf. Puh hatte ihm gesagt, er würde sitzenbleiben, wenn er so weitermachte. Aber war das mit dem Sitzenbleiben wirklich so schlimm? Immerhin brauchte man nicht zu stehen. Das Einzige, was dem kleinen Vogel von noch größerem Vorteil schien, war liegen bleiben, am liebsten wohlig eingekuschelt in seinem Schlafkörbchen! Er nahm sich fest vor, sich mit dem Wichtel einmal ausführlich darüber zu unterhalten. Hier im Lehrerzimmer kam er also auch nicht weiter. Er schlüpfte durch die Tür und flatterte auf den Flur hinaus.

Was sollte er jetzt tun? Zwitschi war ratlos. Er flog zum gekippten Fenster zurück und setzte sich neben den Hibiskus auf die Fensterbank. Ohne eine Antwort zu erwarten, fragte er: „Na du kleine Biene, was würdest du an meiner Stelle machen?“ Die Biene schwirrte hinüber zur Orchidee und beschnarchte die große Blüte. Zufrieden summend ließ sie sich darauf nieder. „Vielleicht hast du ja recht, aber das Summen klappt bei mir nicht so gut“, sagte Zwitschi und flatterte davon. Da durchzuckte ihn ein Gedankenblitz. Möglicherweise waren sie ja in den Schulgarten gegangen. Die Idee bedurfte einer sofortigen Überprüfung. Vielleicht hatte Puh die Mathestunde mit dem Schulgartenunterricht getauscht, erstens, damit Zwitschi sie in vollem Umfang genießen konnte und zweitens, weil der Garten winterfest gemacht werden musste und man nie genau wusste, wann der nächste Regenschauer im Anflug war. Schleunigst kreiselte Zwitschi um die Waldschule herum und landete zwischen den Beeten. Es war vergebens! Niemand war im Schulgarten. Nichts Stacheliges, nichts Gefiedertes, nichts Puscheliges, nichts mit Fell und nichts mit Bart konnte er entdecken. Eigentlich blieb Zwitschi nichts weiter übrig, als nach Hause zu flattern und sich auf die Standpauke am Abend vorzubereiten, wenn Puh vom Schulausflug zurückkam, den er, Zwitschi, verpasst hatte. Willy würde beim Wichtel sicherlich ein gutes Wort für ihn einlegen, aber Zwitschi würde das nicht wollen. Dieses Süppchen musste er ganz allein auslöffeln, auch wenn es noch so bitter schmeckte. Vielleicht konnte ihn der Kauz hinterher mit einer Tasse heißen Kakao aufheitern, am liebsten mit einer großen Sahnehaube obendrauf. Es tat gut, wenn man einen so treuen Freund wie Willy hatte.

„Huhuhu, Zwitschi, guten Morgen“, meldete sich Willy plötzlich. War er es wirklich oder träumte Zwitschi. Gerade hatte er an seinen Kauzenfreund gedacht und schon landete der neben ihm im Gras. War Willy vielleicht ein Telepath? Zwitschi blickte ihn verwundert an: „Findest du unsere Mitschüler etwa auch nicht?“ fragte er zögernd. „Ich suche sie eher selten an Sonntagen in der Waldschule“, lachte Willy. „Sonntag? Sag bloß, heute ist Sonntag?“ „Na klar. Ach so, jetzt verstehe ich. Du hast gedacht, wir hätten Montag. Ich war schon sehr überrascht, ausgerechnet dich an unserer Waldschule vorzufinden, wo du doch sonst kaum hineinzubekommen bist“, feixte das Käuzchen und schüttelte sich. „Sag bloß, ich habe diesen ganzen Stress hier nur, weil ich die Wochentage verwechselt habe?“, fragte Zwitschi entrüstet. Willy nickte eifrig: „So schaut’s aus. Aber versuch es doch mal so zu sehen: Puh wird es wahnsinnig freuen, dass er so einen fleißigen Mitbewohner hat, der selbst an den Sonntagen für den Kampf mit den Bruchgleichungen gerüstet ist“, grinste Willy amüsiert. „Müssen wir’s ihm denn unbedingt erzählen? Womöglich denkt er noch, ich bin ein Streber.“ Willy lachte. Er war sich sicher, dass der Wichtel zu solch absurden Gedanken nicht fähig war.

Zusammen flogen sie zurück zum Zwergengarten. Dort trafen sie auf Puh, der gerade den Gartenweg fegte. „Na Zwitschi, du bist ja auch schon wach?“, wunderte sich der Zwerg, Dich hätte ich eigentlich in deinem Schlafkörbchen vermutet, heute wo du endlich einmal richtig ausschlafen kannst.“ „Ausschlafen? Wo denkst du hin? Ich war im Schulstress“, teilte ihm Zwitschi wichtig mit. „Schulstress zum Sonntag? Wieso das denn auf einmal?“ Puh verstand die Welt nicht mehr. „Wieso denn nicht, wer so ein richtiger Musterschüler ist, der zeigt seine Lernfreude an jedem Wochentag“, erklärte Zwitschi stolz. Vielleicht konnte er bei Puh damit ja ein paar Pluspunkte sammeln, doch weit gefehlt. „Deine Lernfreude hättest du dir besser für morgen früh aufsparen sollen, damit ich dich nicht erst wieder mit der Blumensprühkanne aus den Federn jagen muss“, meinte der Zwerg und ging ins Haus, um sich einen Tee zu kochen. Zwitschi hatte ein mulmiges Gefühl, als er unsicher hinterher trippelte. Irgendetwas war da noch gewesen heute Morgen? Was war es nur? „Zwitschi, verflixt und zugewichtelt noch mal“, hörte er den Zwerg in der Küche herumpoltern. Die Sonnenblumenkerne sprangen lustig tanzend wie das bunte Herbstlaub umher und bedeckten bald den Küchenfußboden. Ach das war es also! „Warte Puh, ich kümmere mich drum“, erklärte Zwitschi bereitwillig und sammelte sie auf, und zwar nach folgendem System: Einen in die Tüte, einen in den Zwitschi. Doch als Puh sagte, dass er von den noch auf dem Boden verbliebenen Sonnenblumenkernen nicht mehr als fünf Prozent in den Zwitschi stecken durfte, weil er sonst beim Putzen der Pilze helfen musste, beendete der kleine blaue Vogel sein zweites Frühstück sofort. Null Kerne waren auf jeden Fall weniger als fünf Prozent. Und so war er auf der sicheren Seite.