Schlaflos im Zwergenhaus

Es dämmerte bereits, als Puh den Zwergengarten erreichte. Er kam von einem Picknick, zu dem er Hüpf, das rotbraune Eichhörnchen, und die drei Hasenkinder Schnuffi, Langöhrchen und Spitznäschen eingeladen hatte, zurück. Die Vier waren dem Zwerg fleißig zur Hand gegangen und zusammen hatten sie seinen Gartenzaun wieder in ein wunderschönes himmelblau getaucht. Fröhlich pfeifend besah Puh noch einmal ihre gemeinsame Arbeit und lächelte, als er an die fleißigen Pfoten dachte, die unermüdlich den Pinsel geschwungen hatten. Er war sichtlich zufrieden.

Als er am Salatbeet vorbeistiefelte, mischte sich allerdings ein wenig Missfallen unter seine gute Laune: "Pünktchen, was hatten wir abgemacht?", fragte er das Reh kritisch, das gerade einem besonders zarten Kopfsalat den Garaus machte. Das Reh erschrak: "Ich glaub', es fällt mir gerade wieder ein", stotterte es verlegen, "du sagtest, die großen Salatköpfe, für die du keine Verwendung mehr in deiner Zwergenküche hast, kann ich ruhig verputzen, stimmt's?" Puh bestätigte es brummelnd. "Entschuldige, aber was soll ich denn jetzt machen", sagte Pünktchen, "wieder hervorholen kann ich den Salat ja nicht." "Selbst wenn du es könntest, würde ich dankend darauf verzichten", lachte Puh, "also versuche bitte das nächste Mal an unsere Abmachung zu denken." Das Reh nickte kauend und sah ihn schuldbewusst aus großen sanften Augen an. Puh murmelte: "So schlimm ist es ja nun auch wieder nicht." Wenn er Pünktchens Blick nicht augenblicklich auswich, würde er ihm auch noch erlauben, die Petersilie und den Dill zu verdrücken.

Zum Glück kam ihm Willy, der kleine Kauz, zu Hilfe. Ein Aufschrei durchschnitt die abendliche Stille: "Eine Maus! Eine große knackige Maus!", jauchzte sein Kauzenfreund auf. Puh fuhr herum und blickte hinauf in den Abendhimmel. Willy segelte auf weit ausgebreiteten Schwingen zu Boden und hatte dabei den Schnabel weit aufgerissen. Da raschelte es leise und kleine Füße flitzten flink ins Mauseloch. Willy schnappte ins Leere und sah erstaunt auf die Stelle, wo vor ein paar Sekunden noch eine schöne knackige Wühlmaus sehnsüchtig darauf gewartet hatte, dass er sie fing. "Sie ist weg", brummelte er mürrisch, "wieso hat sie denn gemerkt, dass ich sie anvisiert hatte?" "Tja, wie ist das bloß möglich", spottete Puh, "an deinem lautstarken Warnruf kann es ja auf keinen Fall gelegen haben." Willy glitt zu Boden und sah traurig in das Mauseloch. "Da wohnt nun so ein großer Mäusejäger in meinem Garten", kicherte Puh, "die Mäuse holen mir die Möhren und die Radieschen weg und bilden unter meiner Erde regelrechte Kolonien. Und alles, was meine Gartenarbeit noch hergibt, holt sich Willy, weil ihn die Mäusejagd nicht sättigt." "Ach komm schon Puh, erst letzte Woche habe ich acht Wühlmäuse erledigt", sagte der Kauz sichtlich stolz. "Das hätte ich auch gekonnt. Du hast sie ertränkt, weil du vergessen hast, den Gartenschlauch abzustellen", lachte der Zwerg laut auf. "Aber sie sind hinüber und das zählt", bestand Willy auf seinem Erfolg. "Meine Tomatenpflanzen auch", konterte Puh. "Man muss eben Opfer bringen", gab Willy zurück. Während der Kauz sich seines großen Erfolgs rühmte, schlichen sieben Spitzmäuse aus einem anderen Mauseloch ganz dicht an seinem Schnabel vorbei und zogen ins Gladiolenbeet um. Willy nahm keine Notiz davon und plusterte sich auf: "Acht Mäuse habe ich erlegt! Acht Stück! Ich, der große Mäusejäger ..." "Und sieben lässt dein legendärer Jagdinstinkt gerade an dir vorbeiwandern", ergänzte Puh schmunzelnd. Jetzt hatte er den Kauz aufgerüttelt. Willy drehte so lange den Kopf in alle Richtungen, bis er endlich die Völkerwanderung der Spitzmäuse entdeckte. Das konnte er sich nun wirklich nicht bieten lassen. Wütend stürzte er hinterdrein. Die letzte Maus konnte er noch am Schwanz packen. Doch als er sie hochriss, hatte er nur die Schwanzspitze im Schnabel. "Noch heute Nacht werde ich mich bitter für diese Niederlage rächen", schwor der Kauz bei seinen Federn. Puh Wünschte laut: "Weidmannsheil", murmelte aber leise: "oder wie man in deinem Fall besser sagt: Wasser Marsch!", in seinen Bart und verschwand im Zwergenhaus.

Der Zwerg war guter Dinge. Sein Magen war wohlig gefüllt mit Tomatensalat und Käsewürfeln, der Picknickkorb war restlos leer und der Duft des Schaumbads breitete sich allmählich im ganzen Badezimmer aus. Puh ließ sich in eine Duftwolke aus zartem Rosenschaum sinken, zündete vier herzförmige Kerzen auf dem Wannenrand an und ließ es sich wohl sein. Was konnte es Schöneres geben. Nach einer halben Stunde fiel es ihm ein: Wasser, das nicht kalt wurde. Leicht fröstelnd entstieg er den Schaumkronen, kuschelte sich in sein Badetuch und schlüpfte dann in Nachthemd und Schlafpantoffeln. Was war er müde. Schnell pustete er die Kerzen aus und ging ins Schlafzimmer hinüber. Der Mond erhellte den Raum ausreichend und so knipste Puh das Licht erst gar nicht an. Sein Kopfkissen konnte er auch so aufschütteln. Doch halt! Was war das? Irgendetwas klebte darauf! Kleckse! Auch auf der Bettdecke - jede Menge Kleckse. Wie kamen die hier her und woraus bestanden sie? Puh knipste nun doch das Licht an. "Wer zum Zwitschi hat hier rumgekleckert ...!", schrie er entsetzt auf. Draußen machte sich heimlich, still und leise etwas kleines Blau gefiedertes aus dem Staub. Zwitschi hatte in der Nähe des offenen Schlafzimmerfensters gelauert. Nun zog er es aber vor, die Nacht irgendwo im Garten zu verbringen als bei diesem mürrischen Wichtel, der wegen ein paar blauer Farbkleckse einen solchen Aufstand machte. Der kleine Vogel wagte es gar nicht, sich auszumalen, welche Schlechtwetterfront erst aufzog, wenn Puh das eigentliche Kunstwerk entdecken würde. Der Zwerg begann zu schimpfen: "So ein ..." Dann blieben ihm die Worte im Halse stecken. Sein Blick war auf den gelben Teppich gefallen. Farbe, blaue Farbe! Überall - blaue Farbe. Nicht nur auf der Bettdecke und auf dem Kopfkissen. Auch der Teppich im Zwergenschlafzimmer war himmelblau bekleckst! Wie konnte dieser verflixte Vogel nur ...? Puhs Blick war zum Fenster hinübergewandert. Es stand sperrangelweit offen. Auch das noch. Puh hatte ihn förmlich eingeladen und Zwitschi hatte ein himmelblaues Gastgeschenk im Gepäck gehabt! Der Zwerg schleppte sich zum Fenster hinüber und klappte es an. "Zwitschi! Du gefiederter Farbeimer, du Federpinsel, du Klecksevogel, du, du ..." Puh nahm jetzt auch die Kleckserei auf Fensterbrett, Schrank und Nachttisch wahr. In seiner Not kramte er den Zauberstab zwischen seinen Tischtüchern im Wäscheschrank hervor und rief einen verzweifelten Zauberspruch in die Nacht hinaus:

"Farbenklecks und Pinselstrich
Aus diesem Raum entferne dich!"

Als wäre ein unsichtbarer Radiergummi darüber hinweggesaust, verschwanden alle himmelblauen Klecksereien. Die Bettdecke leuchtete wieder rosa, der Teppich wieder gelb, der Schrank war wieder weiß. Puh hatte es fast nicht zu hoffen gewagt, aber sein Zauberspruch war von Erfolg gekrönt. Nachdem er den Zauberstab wieder sicher verstaut hatte, ließ er sich erleichtert aufs Bett fallen. Doch dann: "Zwitschi?", Puh glaubte einer Halluzination aufgesessen zu sein. Doch das künstlerisch in Szene gesetzte, rundum himmelblaue Selbstporträt des kleinen blauen Vogels starrte ihm von der Decke entgegen. Puh legte vor Schreck den Schalter der Nachttischlampe um und versuchte seine Augen zu beruhigen. Das konnte unmöglich wahr sein. Sicher hatte ihm seine Fantasie einen bösen Streich gespielt. Der Zwerg schöpfte tief Atem, versuchte sich ein wenig zu beruhigen, knipste das Licht wieder an und sah vorsichtig zur Zimmerdecke empor. Zwitschi! Kein Zweifel! Das war keine Halluzination. Zwitschis Selbstporträt war echt. Puh spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Um diesen riesengroßen Schandfleck wegzuzaubern, hatte er offenbar nicht genügend Zauberkraft gehabt. Und für Farbeimer und Pinsel war er abends um halb zehn nicht in der richtigen Stimmung. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.

Doch mit Zwitschi an der Zimmerdecke genau über seinem Bett konnte er nicht einschlafen. Er fühlte sich beobachtet. Unruhig wälzte sich der Zwerg von einer Seite auf die andere. Schreckliche Vorwürfe quälten ihn. Wieso hatte er vergessen Eimer und Pinsel in den Schuppen zu räumen und diesen gründlich zu verschließen? Und wozu hatte er das Fenster offen stehen lassen? Was war nur in ihn gefahren? Endlich dämmerte Puh dahin. Da tauchte Zwitschi mit einem himmelblau getünchten Pinsel im Schnabel, der genau auf seine Nasenspitze zielte, auf der Bettdecke auf. Puh fuhr hoch. Nichts! Kein Pinsel, kein Zwitschi, Welch ein Glück! Trotzdem musste sich der Zwerg erst einmal beruhigen. Der Schreck war ihm in alle Glieder gefahren. Vielleicht half ja ein Glas warme Milch. Puh schlurfte in die Küche, trank die Milch in gierigen Zügen und ging zurück ins Bett. Müde ließ er seinen Kopf aufs Kissen sinken und starrte hinauf zur Decke. Der helle Mond setzte Zwitschis Pinselei gnadenlos ins rechte Licht. Puh schloss die Augen. Es nützte aber nichts, denn er wusste ja, was da über ihm schwebte. Und das genügte vollkommen, um ihm das Einschlummern zu vermiesen. "Zwitschi, du Pinselschnabler, du Farbfeder, du Schnabelstrich", brummelte Puh. Aber ihm wurde nicht leichter ums Herz. Er musste sich irgendwie ablenken. Inzwischen hatte die Walduhr schon elf geschlagen. Gedichte waren doch eigentlich ideal zum Einschlafen. Auf seinem Nachttisch lag noch ein Gedichtband. Weit war er nie damit gekommen, weil ihn das Lesen von Lyrik immer sehr ermüdete. Was für ein wundervoller Gedanke. So schlug er Seite vier auf und begann:

Ode an die Fichte

von Eugenius Wichtel zu Waldesruh

Was kann man schon von jemandem erwarten, der so heißt, dachte Puh und begann gähnend zu lesen.

O du wunderschöne Fichte,
die du stehst im dunklen Lichte ...

"Welch ein Unfug", knurrte Puh, "entweder dunkel oder Licht. Kann sich dieser poetische Tiefflieger nicht mal entscheiden? Aber wenn ich davon einschlafen kann. Was man nicht alles tut! Also weiter im Text."

Die du da hast so viele Nadeln,
nichts finde ich an dir zu tadeln!

"Was erwartet der von einer Fichte denn sonst? Vielleicht Laub? Eugenius, Eugenius, du bist auch ein botanischer Tiefflieger, wenn dich Nadeln an einer Fichte so in Erstaunen versetzen können", brummelte Puh und gähnte, "noch ein paar Zeilen von dieser Schlaftablette und dann ist alles gut."

So schön von geradem Wuchs und herrlichem Stamme,
der Wind streichelt dein Kleid mit goldenem Kamme!

Ein leises Schnarchen war zu vernehmen. Puh war eingeschlafen. Da rutschte das Buch Zentimeter um Zentimeter auf die Bettkante zu und fiel zu Boden. Der Zwerg saß senkrecht im Bett. Ob es aber nun an dem Buch oder an Zwitschi lag, der in seinem Traum mitten in einer Fichte saß und die Zapfen himmelblau anstrich, konnte Puh nicht sagen. Auf jeden Fall war er wieder hellwach. Die Walduhr schlug zwölf. Was für eine fürchterliche Nacht. Und Zwitschi begleitete ihn mit seinen wachsamen Blicken durch die Geisterstunde und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Welch ein Albtraum.

Der Zwerg warf sich wutschnaubend von einer Seite auf die andere. Wie sollte er bloß wieder einschlafen? Was konnte da helfen? Schäfchen zählen, vielleicht? Was für ein genialer Gedanke! Das musste er gleich ausprobieren: "Eins, zwei, drei, vier, ..., vierundsiebzig. Oh nein!" Puh fuhr mit einem schrillen Schreckensschrei hoch. Zwitschi saß auf dem Rücken des vierundsiebzigsten Schafes und bemalte dessen Ohren himmelblau. Natürlich! Himmelblau! "Was schwirrt der nur andauernd in meinen Träumen herum?", keuchte der Zwerg und wandte sich noch einmal seinem Gedichtband zu.

Oh Fichte, die du gedeihest unter blauem Himmel

Puh warf das Buch wütend gegen den Schrank. Von Blau und Himmel hatte er für heute wahrhaftig genug. Die Walduhr schlug eins. Schon wieder war eine Stunde verronnen. Eine ganze Stunde - unterbrochen von fünf Minuten Schlaf! Und Zwitschis Bildnis an der Zimmerdecke sah ungerührt zu. Puh begann voll tiefer Verzweiflung seine Barthaare zu zählen. Endlich schlummerte er darüber ein und träumte von gelben Orchideen inmitten grüner Gräser. Doch halt! Hatten sich da nicht ein paar Kornblumen dazwischengemogelt? Im nächsten Augenblick stellte sich diese Frage nicht mehr. Die Walduhr schlug gerade zwei. Puh wachte von ihrem hellen Glockenschlag auf. Der Zeitpunkt hätte günstiger gar nicht sein können. Die Milch forderte nämlich ihren Tribut. Also schwang er sich aus dem Bett und ging für kleine Zwerge. Wieder zurück unter der warmen Bettdecke begann er plötzlich zu schwitzen. Er deckte sich unentwegt auf und zu, war unzufrieden mit sich und der Welt und vor allem mit Zwitschi, der ihm so einen himmelblauen Alptraum an die Decke gepinselt hatte.

Nach Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen, verfiel der Zwerg wieder in einen leichten Schlummer. Er sah sich durch ein großes Tulpenfeld mit lauter schneeweißen Tulpen gehen. Tief sog er den zarten Duft der stolz prangenden Blumen ein. Auf einmal: oh Schreck. Wie kam dieses Exemplar hierher. Eine Tulpe in himmelblau. Plötzlich schwebte Zwitschi mit einem Pinsel im Schnabel an ihm vorrbei und begann damit eine zweite Tulpe zu streichen. "Aufhören, raus aus meinem Traum", brüllte Puh und saß aufrecht im Bett. Er zwinkerte zur Decke, sah die Umrisse von Zwitschis Porträt schimmern und sank seufzend ins Kissen zurück. Und so lag er da, versuchte die Augen fest geschlossen zu halten, um das Bildnis an der Decke wenigstens nicht sehen zu müssen, riss sie aber sofort wieder auf, wenn Zwitschi mit dem tropfenden Pinsel im Schnabel vor seinem inneren Auge auftauchte. Da schlug die Walduhr vier. Sechs Stunden waren inzwischen vergangen, seit Puh sich mit dem Gedanken ans Einschlafen beschäftigt hatte. Sechs Stunden, von denen er vielleicht eine halbe Stunde geschlafen hatte. Es war zum Verrücktwerden. Er überlegte, ob er nicht gleich aufstehen sollte. Dann beschloss er aber doch noch ein wenig liegen zu bleiben und sich auszumalen, wie er Zwitschis Selbstporträt überpinselte. Das tat gut. Wieso war ihm dieser Gedanke nicht schon ein paar Stunden früher gekommen? Strich um Strich sah er, wie seine Decke weiß wurde, und darüber schlief er endlich friedlich ein.

Puh schlief sogar noch, als sich Zwitschi um acht Uhr morgens durchs nunmehr angeklappte Fenster zwängte, um die Lage zu peilen. Die Kleckse waren verschwunden. Wie schön! Zwitschi legte keinen großen Wert auf deren Anwesenheit. Wie gut, dass sein Hausgenosse ein so guter Zauberer war. Und das schöne Porträt? Das prangte immer noch stolz an der Zimmerdecke. Zwitschi hatte es nicht zu hoffen gewagt. Nachdem Puh gestern eine solche Gewitterstimmung wegen der paar himmelblauen Kleckse an den Tag gelegt hatte, hatte Zwitschi befürchtet, dass der Zwerg auch sein Bildnis entfernt hatte. Aber verschwunden waren nur die Kleckse. Wie wundervoll. Zwitschi nickte anerkennend. Der Zwerg hatte offenbar einen ausgezeichneten Kunstgeschmack. Das hatte er ihm gar nicht zugetraut. Glücklich begann der kleine blaue Vogel zu zwitschern. "Hab' ich dich endlich, du alter Blaupinsel", schrie Puh und warf in der Verwirrung sein Kopfkissen an die Zimmerdecke. Zwitschi machte sich schleunigst aus dem Staub, bevor der Zwerg mit der Bettdecke nach dem Original werfen konnte und beschloss, das Zwergenhaus großräumig zu umfliegen, bis Puhs Zimmerdecke wieder in diesem schrecklichen Weiß erstrahlte.