Lampenfieber

Als der kleine blaue Vogel Zwitschi am frühen Morgen erwachte, blickte er sich verwundert um. Wo war denn nur das Töpfchen Himbeergrütze mit Vanillesoße geblieben, in das er vor einer Sekunde kopfüber hineingestürzt war? Offenbar stand es nicht auf dem Kirschbaum im Zwergengarten, auf dem er gerade saß. Zwitschi betrachtete verärgert die zart duftenden schneeweißen Kirschblüten. Mit denen konnte er sich heute auch nicht trösten. Bevor daraus die süßen roten Kirschen wurden, würde es noch ein Weilchen dauern. Wieso war Zwitschi nur aufgewacht, bevor er sich seinen Bauch so richtig mit der köstlichen Himbeergrütze hatte vollschlagen können? Lag es vielleicht an den drei fleißigen Hummeln, die unablässig von Blüte zu Blüte flogen? Zwitschi beschloss nicht weiter darüber nachzudenken. Sein Traum war zerstört und ihm war eigentlich egal, wer dafür verantwortlich war. Aber die Erinnerung an dieses herrliche Grützetöpfchen war noch sehr lebendig. Der kleine Vogel hatte sich nun einmal Himbeergrütze in den Kopf gesetzt und nun musste er auch Himbeergrütze haben. Da musste eben sein Lieblingswichtel Puh dafür sorgen, dass sein Traum kein Traum blieb. Zwitschi verließ seinen Ast Und segelte hinunter in den Zwergengarten.

Es klapperte. Aha, Geschirr. Es duftete nach frischem Brot, Lindenblütentee und Orangen. Aha, Frühstück im Freien. Aber kein Hauch von Himbeergrütze lag in der Luft. Zwitschi trippelte missmutig zum Tisch vor dem Zwergenhaus hinüber. "Guten Morgen", strahlte Puh, als er seinen Vogelfreund erblickte. Der überging den fröhlichen Gruß und brummelte: "Keine Himbeergrütze da!" "Woher sollte ich denn wissen, dass du Grütze möchtest?", fragte der Wichtel erstaunt. "Na euch Zwergen sagt man doch eine besondere Klugheit nach. Bei dir mache ich ja schon einige Abstriche. Das hat mich inzwischen die Erfahrung gelehrt", erklärte Zwitschi, "aber, dass du wenigstens weißt, wovon ich träume, kann ich ja wohl erwarten." Puh lachte, als er sah, dass sich Zwitschis Federn vor lauter Enttäuschung aufstellten. "Vielleicht könnte ich dir ja ein Schälchen Grütze herzaubern", überlegte der Wichtel. "Bitte nicht noch mal, dein letzter Versuch war zäh wie rosafarbener Kaugummi und die Vanillesoße hat nach Tapetenkleister geschmeckt." Puh schmunzelte, schmierte sich ein Sirupbrot und biss herzhaft hinein. "Lass es dir ruhig schmecken, während ich hier jammervoll verschmachten muss", maulte Zwitschi, "mich an deiner Stelle würden meine Probleme auch nicht kümmern, wenn ich mir was in den Schnabel schieben könnte." Puh beachtete den kleinen Vogel nicht weiter und aß sein Brot auf. "Meine kleinen bescheidenen Wünsche übergehst du einfach und futterst, was in deinen Zwergenbauch hineinpasst. Womit hab' ich das nur verdient?" Der Wichtel seufzte tief und ging in die Küche. Er würde nicht in Ruhe zu Ende frühstücken können, wenn diese kleine blau gefiederte Nervensäge weiter ohne Nahrung blieb. Irgendwo in Kühlschrank musste doch noch ein Schälchen Schokopudding stehen.

Als er es vor Zwitschi auf den Tisch stellte, hopste der kleine blaue Vogel unzufrieden darum herum. "Wenn's sein muss und nichts Besseres in deinem Kühlschrank zu finden ist, werde ich mich mit dem braunen Glibberzeug hier anfreunden müssen." "Aber Zwitschi, nun sei nicht ungerecht", sagte Puh, "du liebst doch Schokopudding." "Aber nicht, wenn ich von Himbeergrütze geträumt habe." Doch dann senkte sich ein aufgesperrter Vogelschnabel in die Puddingschüssel und Zwitschi schmatzte zufrieden. Puh machte sich ein zweites Sirupbrot und schaute dem kleinen Vogel lächelnd zu. Da steuerte Willy, der kleine Kauz, direkt auf die beiden zu.

"Komm Zwitschi, beeil dich", drängelte er, "es ist Zeit für die Chorprobe." Zwitschi fuhr erschrocken aus seiner Puddingschüssel hoch. Aufgeregt begann er mit den Flügeln zu schlagen. "Na so sehr eilt es auch wieder nicht", sagte Willy freundlich, "du kannst dein Frühstück schon noch beenden." "Es ist soeben beendet. Ich bin satt", erwiderte Zwitschi, dem der Gedanke an die Chorprobe den Appetit gründlich verdorben hatte. "Satt?", fragte Puh verwirrt, "von dem bisschen?" "Jawohl", bestätigte Zwitschi. "Das gibt es doch nicht", überlegte Puh, der sich nicht erinnern konnte, wann er dieses Wort aus Zwitschis Schnabel das letzte Mal gehört hatte. Oder hatte er es überhaupt schon einmal gehört? Zwitschi jedenfalls verzog sich in die obersten Äste des Kirschbaums. Er konnte den Schokoladengeruch plötzlich nicht mehr ertragen. Wie hatte er jemals Schokopudding hinunterschlingen können? Selbst der Gedanke an Himbeergrütze verursachte nur noch Übelkeit und Schüttelfrost. In seinem Magen saß ein dicker fetter Kloß.

"Was hat er denn?", war der Wichtel nun interessiert und hoffte inständig von Willy eine Antwort auf seine Frage zu bekommen. "Wahrscheinlich Lampenfieber. Er darf nämlich mit der Krähe Gundula im Duett singen. Und wie wir alle wissen, schwärmt er sehr für sie und möchte sich gewiss nicht blamieren", plapperte Willy munter drauflos. Puh nickte. Also das war es. Zwitschi hatte Lampenfieber und die Liebe ging sicherlich auch ein wenig durch seinen Vogelmagen. Der kleine Vogel versuchte vergeblich wegzuhören, als Puh sagte: "Tja mit der Liebe hat es eine ganz besondere Bewandtnis." Als ob der sich damit auskannte. Schließlich bekam Puh immer noch feuerrote Ohren, wenn Zwitschi das hübsche Wichtelfräulein Luzie nur erwähnte. Und sein Kauzenfreund Willy? Der kannte sich nur mit knusprigen Rattenmädchen zum Abendbrot aus. Aber nun schwatzte der Kauz mit Puh in den höchsten Tönen von Liebesschmerz und Herzensangelegenheiten. Nie hätte Zwitschi geglaubt, dass Willy so eine Tratschfeder ist. Der kleine Vogel beschloss, den beiden keinerlei Beachtung mehr zu schenken. Er musste sich unbedingt ablenken. Und so sah er träumend hinauf zu den Wolkenpalästen. Wer würde darin wohnen? Eine Wolkenprinzessin vielleicht? Und wie würde sie aussehen? Wenn es nach Zwitschi ging, würde sie so wunderschön sein wie Gundula. Sie würde einen wohlgeformten gelb leuchtenden Krähenschnabel haben wie Gundula und sie würde eine liebliche krächzende Stimme haben wie Gundula. Und natürlich würde sie auch so wunderschöne watteweiche glänzend schwarze Wolkenfedern haben, wie Gundula. "Ach du schöne schwarze Krähenfeder", murmelte Zwitschi versonnen. Auf einmal durchfuhr ihn ein Riesenschreck. Gundula, seine wundervolle Gundula würde ihn bestimmt bereits erwarten. Er durfte mit ihr im Duett singen. Ihm, Zwitschi, wurde die große Ehre zuteil ihr melodisches Gekrächze mit seinem Gezwitscher zu untermalen. Bei diesem Gedanken begann sein kleines Vogelherz wie wild zu klopfen und drohte fast zu zerspringen. Seine Kehle schnürte sich zu. Sicherlich kam nachher kein einziger Laut aus seinem Schnabel. Was für eine jämmerliche Figur würde er abgeben? Und Gundula, die schönste aller Krähen? Sie würde enttäuscht sein. Heiße und kalte Schauer liefen im ständigen Wechsel Zwitschis Rücken hinunter. Er konnte nicht zur Chorprobe gehen. Auf keinen Fall! Niemals! Ausgeschlossen! Aber Gundula? Würde sie nicht schrecklich enttäuscht sein, wenn er es nicht einmal versuchte? Da tauchte Willy neben ihm auf.

"Komm schon Zwitschi! Es wird langsam Zeit. Die anderen warten bestimmt schon auf uns." "Ich kann nicht. Ich bin heiser", versuchte sich der kleine blaue Vogel herauszureden, "könntest du mich bitte entschuldigen." Und dabei hustete er und brachte ein paar kehlige Laute hervor. "Ach Zwitschi, wir beide wissen, dass das nicht stimmt", sagte Willy milde, "du brauchst doch nicht aufgeregt zu sein. Du kannst wunderschön zwitschern. Und du kannst es auch und ganz besonders dann, wenn Gundula ihre wohlklingende Krächzmelodie zum Besten gibt. Glaub mir. Gelernt ist gelernt." "Meinst du wirklich?", Zwitschi war immer noch verunsichert. "Aber natürlich", sagte der Kauz überzeugt und Zwitschi folgte ihm zur Waldwiese. Puh saß noch lange am Tisch, verputzte dabei sieben weitere Sirupbrote und ging dann in die Zwergenküche um ein Töpfchen Himbeergrütze und ein Töpfchen Vanillesoße für seinen Vogelfreund zu kochen. Zwitschi würde schrecklich hungrig sein, wenn er zur Mittagszeit zurückkehrte. Die zwei Schnäbelchen Schokopudding würden ihn nicht lange satt machen, wenn sich sein Lampenfieber erst einmal gelegt hatte. Und den restlichen Schokoladenpudding konnte Puh ihm nicht mehr anbieten, denn den hatte er selbst ganz in Gedanken aufgegessen.

Als Zwitschi und Willy die Waldwiese erreichten, dirigierte die Eule Agathe bereits voller Inbrunst ein Quartett. Zwei Rotkehlchen pfiffen die Strophen und die beiden Täubchen Guri und Guru sollten den Refrain anstimmen. Doch nur Guru gurrte. Guri hatte sich abgewandt und sah demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. "Guri, du musst gemeinsam mit Guru gurren", sprach die Eule. "Ich? Mit dem? Ich fühle mich zu Höherem geboren", die Taube war entrüstet, "der trifft doch keinen Ton. Da sind doch meine stimmlichen Fähigkeiten die totale Verschwendung. Ich möchte ein Solo!" "Ein Solo brauchen wir nicht, aber die zweite Stimme für den Refrain fehlt uns. Also gib dir einen Ruck und gurre mit ihm gemeinsam." "Eher lass ich mir von einem Windstoß die Federn zerzausen", meinte Guri überheblich und flüchtete sich in die Äste der Eiche. "Was hast du denn, ich halte doch die Melodie ausgezeichnet?", fragte nun Guru, der Täuberich voller Unverständnis. "Mag sein, aber nicht die richtige", sagte Guri verächtlich. Die Chorprobe ging die Taube nichts mehr an. Offenbar war sie hier nicht am rechten Ort. Sie mit ihrer glockenklaren Stimme hatte ein Duett mit diesem verstimmten Täuberich nun wirklich nicht nötig.

"Ihr braucht bestimmt Ersatz für Guri", kam da eine zarte Stimme von der Buche herunter. "Aber ja doch", freute sich Agathe. Und dann schwebte ein liebliches wunderschönes Taubenmädchen auf die Waldwiese hernieder. Elfengleich setzte es seine Füßchen ins Gras und strahlte Guru an: "Es wäre mir eine große Ehre mit dir zusammen zu gurren." Und Guru, der verschmähte Täuberich? Der schmolz dahin. Sie, die schönste aller Tauben, wollte mit ihm gemeinsam singen. Mit ihm, von dem Guri gerade noch gesagt hatte, dass er keinen einzigen Ton halten konnte. War das ein Traum oder wahr? Doch da saß sie, sie dieses liebreizende Geschöpf und sah ihn erwartungsvoll aus ihren munteren grün blitzenden Augen an. Verlegen senkte er den Blick. "Es freut mich, dass wir so schnell Ersatz für Guri gefunden haben", sagte Agathe, "können wir anfangen?" Und sie begannen. Die Rotkehlchen pfiffen die Strophen und Guru und die liebliche Taube den Refrain. "Aufhören, sofort aufhören", gurrte es da aus der Eiche, "ich habe ihr nicht erlaubt meinen Part zu übernehmen." "Ruhe!", rief Agathe, "du warst dir zu schade für ein Duett! Und nun, wo ein anderes Taubenmädchen mit Guru singt, bist du plötzlich wieder an einem Duett mit ihm interessiert. Wir brauchen dich nicht mehr", sagte die Eule streng und duldete keine weitere Störung. Guri saß nun traurig oben im Baum. Kleine Tränen kullerten ihr über den Schnabel. Willy bemerkte es und hatte tiefes Mitleid mit ihr. "Komm Guri, du kannst mit mir gemeinsam singen. Ich mache huhu und du gurrst ein wenig dazu", sagte der Kauz und wischte der Taube mit seinem Flügel die Tränen fort. "Mit mir? Du willst mit mir gemeinsam singen, obwohl ich Guru gegenüber so überheblich war?" Der Kauz nickte. "Das ist wirklich süß von dir Willy. Du bist der Beste." Guri überdeckte den Kauz mit Schnabelküssen. Der lächelte und freute sich, dass er bei der Taube den richtigen Ton getroffen hatte. Hoffentlich würde das auch bei ihrem Duett so sein. Aber da hätte sich Willy keine Sorgen machen müssen. Guri war überglücklich, dass Willy mit ihr zusammen singen wollte. Sie hätte auch das schrägste Huhu zum melodischsten Gesang im ganzen Zauberwald erklärt. Die Eule zeigte sich auch äußerst zufrieden mit der Darbietung der beiden. Als die Taube zu Ende geprobt hatte, trippelte sie zerknirscht zu Guru und dessen neuer Freundin hinüber. "Entschuldigung", sagte sie. "Was sagst du da?", fragte der Täuberich überrascht. "Entschuldigung. Ich weiß, ich bin unausstehlich, überheblich und eitel. Und so einen lieben Freund wie dich habe ich nicht verdient. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir schrecklich leidtut, was ich über deinen Gesang gesagt habe. Wenn du nichts mehr von mir wissen willst, könnte ich das wirklich gut verstehen." "Wie kommst du bloß darauf, dass ich nichts mehr von dir wissen will, liebstes Gurilein. Mit niemandem kann ich mich so herrlich zanken wie mit dir. Unsere wunderbaren Streitereien würde ich für das netteste Taubenmädchen der Welt nicht aufgeben", sagte der Täuberich. Dann bedankte er sich noch einmal mit einer tiefen Verbeugung bei seiner liebreizenden neuen Gesangspartnerin und flog mit Guri in die Äste der Eiche hinauf, um von dort aus den anderen gefiederten Künstlern bei ihren Proben zu lauschen. Die elfengleiche Taube murmelte: "Wo die Liebe hinfällt." und wandte sich dann Willy zu, der sie auf einen fetten Regenwurm einlud. Der Kauz pflegte heute einen äußerst charmanten Umgang mit den Vogeldamen. Die Taube zwinkerte ihm fröhlich zu und schloss ihn sofort in ihr Herz.

"So jetzt seid ihr dran, Gundula und Zwitschi", rief die Eule, nachdem der Blaumeisenchor und das Trommeltrio der Spechte einen bewundernswerten Auftritt hingelegt hatten. Zwitschi trippelte mit zitternden Beinchen auf die kleine hölzerne Bühne. "Du schaffst das. Du zwitscherst am schönsten von uns allen, Blaufederchen", machte ihm Gundula Mut. Die Krähe war wundervoll. Genau im rechten Moment sagte sie die richtigen Worte. Sie hatte gespürt, dass Zwitschi eine Aufmunterung brauchen konnte. Er schwitzte zwar noch ein wenig, doch als Gundula zu Krächzen begann, stimmte er melodisch zwitschernd in ihren Krähengesang ein. die Eule Agathe warf ihm hocherfreute Blicke zu und nickte anerkennend. Sein Kauzenfreund Willy saß vor der Bühne, hatte einen Flügel um die kleine Taube gelegt, die sich dicht an ihn kuschelte, und hörte Zwitschi bewundernd zu. Und auch das wunderschöne Taubenmädchen lauschte gespannt dem Gesang des kleinen blauen Vogels. Zwitschi war glücklich. Alle waren so gut zu ihm. Das Lampenfieber schwand und plötzlich: "Wir müssen die Proben sofort unterbrechen", tönte er, "ich habe Hunger." "Das gehört aber nicht zu deinem Part", schmunzelte die Eule Agathe gütig. "Wäre aber schön, wenn es dazugehören würde", meinte der kleine Vogel. "Also gut. Euer Duett ist ohnehin schon fast bühnenreif. Wir können die Proben für heute beenden. Kommt morgen alle wieder hier her und in fünf Tagen geben wir für alle Zauberwäldler ein großes Vogelkonzert", sprach die Eule und winkte ihnen zum Abschied mit den Flügeln.

Zwitschi sauste davon. Der Hunger ließ ihn das Kribbeln im Bauch, das die Krähe Gundula verursacht hatte, restlos vergessen. Liebe hin, Liebe her. Von der Liebe zur Krähe allein konnte Zwitschi nicht leben. Manchmal musste es auch ein Schälchen Himbeergrütze sein. Und Himbeergrütze kochte niemand so fantastisch wie sein Lieblingswichtel Puh. Endlich erreichte er den Zwergengarten. "Hallo Zwitschi, ich hab' da was ...", begrüßte ihn Puh, der gerade die Blumen in seinen Blumenkästen goss. Doch Zwitschi ließ ihn nicht einmal aussprechen. Er hatte die Himbeergrütze bereits gewittert. Der kleine Vogel schnellte durch das offene Küchenfenster und ließ sich mitten in die inzwischen abgekühlte Grützeschüssel auf dem Küchentisch fallen.