"Wer hat dich denn in mein Nest gewedelt?", fragte Willy erschrocken und ließ die knackige rote Kirsche fallen, die er gerade in den Schnabel genommen hatte. "Puh mit seinem ollem Staubtuch", sagte Zwitschi, "unser Wichtel hat doch tatsächlich von mir verlangt, dass ich meine schöne Tannenzapfensammlung entstauben soll." "Das traut der sich, wo die Staubschicht doch erst einen halben Zentimeter dick ist, wie ich gestern mit eigenen Augen gesehen habe", lachte Willy. "Jetzt sag bloß, du gibst ihm recht", war Zwitschi entsetzt. Der Kauz nickte. "Na gut, ich kann ja noch mal drüber nachdenken", murrte Zwitschi. "Aber denk nicht zu lange drüber nach, sonst wird aus dem Entstauben noch eine Ausgrabung", meinte Willy. "Ist ja schon gut, ich hab’s verstanden", war Zwitschi zerknirscht. Er hätte es wissen müssen. Die Ordnungsliebe seines Kauzenfreundes war fast schon legendär. "Möchtest du von meinen Kirschen kosten", fragte Willy. Und ob Zwitschi das wollte. Kirsche um Kirsche nahm er aus der Schüssel und die Kerne spuckte er einfach quer über den ganzen Küchentisch. "Zwitschi, tu die Kerne bitte in das kleine Glasschälchen hier", sagte Willy freundlich. So ein Spießer, dachte der kleine blaue Vogel. Aber bitte, wenn er darauf bestand. Die Kirschen waren es allemal wert. "So jetzt muss ich aber gehen", sagte Zwitschi, nachdem sie noch eine Partie Mühle gespielt hatten. "Dann ist es ja gut. Ich hatte schon befürchtet, du wolltest mir noch beim Aufräumen helfen", lachte Willy und seine Augen blitzten schelmisch. Zwitschi hatte nun doch ein schlechtes Gewissen. Er räumte das Mühlespiel in den Karton und brachte die Kirschkerne in den Zwergengarten hinunter, als er ging. "Danke", sagte der Kauz überrascht und nahm einen Besen. Das Nest musste sauber sein. Denn morgen wollte ihn sein Vetter Paul besuchen. Den Besuch hatte er ihm in einen Brief angekündigt.
Als die Morgendämmerung hereinbrach, sah Puh aus dem Fenster, um nach Zwitschi Ausschau zu halten. Er konnte keine einzige blaue Feder entdecken. Wo mochte sich der kleine Schelm nur verkrochen haben. Doch halt, da kam ja jemand angeflogen. Nein, Zwitschi war das nicht. Er leuchtete nicht himmelblau. Und Willy? Ein Kauz war es schon, aber er war irgendwie größer als Willy. "Hallo", rief der Besucher, "wohnt hier irgendwo der Willy, Willy Kauz?" "Ja, dort oben im Kastanienbaum ist sein Nest", antwortete der Wichtel und wies zur alten Kastanie hinüber. "Gut danke, ich bin übrigens Willys Vetter, Paul Kauz." "Freut mich, dich kennenzulernen", sagte Puh. "Die Freude ist einseitig“, erwiderte Paul mürrisch und wandte sich der alten Kastanie zu. Da segelte Zwitschi vom Lindenbaum. Da hatte er also die ganze Nacht über gesteckt. "Hallo, was bist denn du für ein komisches blaues Geschoss?", wurde er von Paul begrüßt. "Meinst du etwa mich?", fragte Zwitschi entsetzt und musterte den unerwarteten Gast abschätzig. "Wen denn sonst oder siehst du noch irgendwas Blaues hier?" Von dem Getöse im Garten wurde Willy aus dem Bett geholt. "Hallo Paul, schön dich zu sehen", nahm er den Gast in Empfang. "Hallo Willy, altes Haus, du bist ganz schön dick geworden", polterte Paul. "Ich bin auch froh, dass du hier bist", sagte Willy und umarmte seinen Vetter. "Diese komischen Federbüschel an deinen Ohren kitzeln mich", beschwerte sich Paul, "die müssen dringend entferntwerden." "Schnabel weg", fuhr ihn Willy an, der wenn es um seine Federbüschel ging äußerst empfindlich reagierte, "an meinen Ohren hast du nichts zu suchen." "Das klären wir später, jetzt kannst du mir erst mal einen starken Kaffee kochen", befahl Paul und flog in Willys Nest voraus. "Warte doch mal, ich will dir noch kurz meine Freunde vorstellen", rief ihm Willy hinterher. "Nicht nötig, von denen hab ich für heute mehr als genug", tönte es von der Kastanie herunter. "Das geht uns genau so", brüllte Puh ihm nach. "Stimmt", piepste Zwitschi erbost, "gegen ein Frühstück mit dem ist Staub wischen ja die reinste Erholung, armer Willy." Der Wichtel nickte. Auch er beneidete den Kauz keineswegs um seinen Besucher. Kein Wunder, dass er ihnen kein Sterbenswörtchen davon gesagt hatte, dass er diesen Rüpel erwartete. Willy Kauz war seinem Vetter inzwischen gefolgt und bereitete das Frühstück zu. "Sollte das vorhin etwa heißen, du willst Staub wischen?", hakte Puh bei Zwitschi nach, nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte. "Warte mal, hab ich das wirklich gesagt?" Dann sah er zur Kastanie hinüber und nickte. In Willys Federn wollte er auch nicht gerade stecken. Plötzlich wirkte der Hausputz weit weniger bedrohlich.
"Diese dünne Plörre war doch kein Kaffee! Das war doch heißes Wasser mit Geschmack!", beklagte sich Paul nach dem Frühstück und streckte sich aufWillys Bett aus um ein Schläfchen zu halten. Nach dieser Bewirtung hatte er Erholung dringend nötig. "Rück mal einStück, damit ich auch noch Platz habe", sagte Willy. "Sag bloß, du willst dich auch hinlegen?", fragte Paul. "Genau das habe ich vor. Also los, mach Platz!" "Vergiss es! Womöglich kitzeln mich deine hässlichen Federbüschel wieder", entgegnete Paul. Willy versuchte sich neben ihn zu drängen. Doch Paul knurrte nur unwillig und schob ihn von der Bettkante. Willy konnte ihn jetzt einfach auffordern, wieder abzuflattern,. Eine Überlegung war das zumindest wert. Aber gehörte sich das für einen guten Gastgeber? Vielleicht konnte er im Zwergenhaus ein wenig ausruhen. Paul hatte eine lange Reise hinter sich. Sicher war er besser gelaunt, wenn er erst einmal richtig ausgeschlafen war. Willy verließ das Nest auf leisen Schwingen - Flugrichtung Zwergenhaus.
Durch das Küchenfenster flog er hinein. Eine Staubwolke wehte ihm entgegen. Zwitschi hatte sich an den Zapfenputz gemacht. "Hallo Zwitschi, fleißig bei der Arbeit", fragte er. Der kleine Vogel nickte und wippte geschäftig mit den Schwanzfedern auf und ab. "Sag bloß dein komischer, wer ist das eigentlich, hat dich rausgeschmissen", erkundigte sich Zwitschi neugierig. "Das ist mein Vetter, mein Vetter Paul Kauz", sagte Willy. "Komische Verwandtschaft! Und was ist nun, hat er dich rausgeschmissen?", bohrte der kleine blaue Vogel nach. "Na ja, weißt du, ich bin freiwillig gegangen, damit er sich in meinem Bett so richtig ausschlafen kann", stammelte Willy. "Ach so nennt man das, wenn man aus seinem eigenen Bett geschmissen wird", gluckste Zwitschi. "Komm rein Willy", lud ihn Puh freundlich ein, "ich hab noch ein wenig Obstsalat übrig." Der Kauz war erleichtert. Keiner von ihnen machte ihm Vorwürfe, obwohl es doch sein Verwandter gewesen war, der den beiden gegenüber ein so schlechtes Benehmen an den Tag gelegt hatte.
"Willy, Willy! Wo bleibt mein Milchreis und das Sauerkirschkompott!", rief es ein paar Stunden später von der Kastanie herunter. "Wie kommt der bloß auf Milchreis?", war Willy verwundert. "Aha, du servierst deinen Gästen also Essen nach Wunsch. Das hätte ich wissen müssen. Macht nichts. Jetzt weiß ich es ja. Merk dir bitte - für morgen Abend bestelle ich Folgendes, wenn ich dich besuche: einen großen Schokopudding mit Erdbeeren, Vanillesoße und das Ganze mit Schokosplittern, nicht zu fein geraspelt, garniert", scherzte Zwitschi. Willy hatte verstanden. Es ging nicht an, dass er sich von seinem Vetter herumkommandieren ließ. Er würde jetzt in sein Nest gehen und Paul mal gründlich die Meinung sagen.
"Da bist du ja endlich, ich brüll mir hier den Schnabel wund", beklagte sich Paul, "wo bleiben denn nun mein Milchreis und das Kirschkompott?" "Wie kommst du auf Milchreis und Sauerkirschen?", wollte Willy wissen. "Ich hatte dir doch geschrieben, dass das mein absolutes Lieblingsessen ist und da sehe ich es als deine Pflicht als guter Gastgeber an, dass du dieses Gericht auf den Tisch bringst." "Jetzt sag ich dir mal was, du benimmst dich unmöglich und ich habe überhaupt keine Lust für so einen Gast wie dich den Gastgeber zu spielen!" "Das hab ich doch schon mal irgendwo gehört", murmelte Paul Kauz, "also was ist nun, wo bleibt mein Mittagessen?" "Von mir kriegst du nichts, außer die Frische Luft, an die ich dich setzen werde. Mir reicht es nämlich mit dir! Ich möchte, dass du wieder dorthin verschwindest, wo du hergekommen bist!" "Das geht nicht, mein zweiter Vetter, der Erwin, hat mich nämlich auch schon vor die Tür gesetzt", sagte Paul, "dass ihr aber auch alle so überaus empfindlich seid." "Ich würde mal anfangen, den Fehler bei dir selber zu suchen, anstatt bei uns und jetzt raus hier!", schrie Willy, den sein Vetter gewaltig gegen den Strich ging.
Paul erschrak. Wenn Willy ihn schon nicht mehr haben wollte, hätte er das ruhig ein paar Dezibel leiser kundtun können. Da saß er nun wieder, wohnungslos, einsam und verlassen wie zuvor und verstand die Welt nicht mehr. Den Fehler bei sich selber suchen, das war gar nicht so leicht. Paul dachte lange nach. Dann beobachtete er, wie überaus freundlich der Wichtel das Reh Pünktchen begrüßte und ihm frische Kräuter reichte. Und Pünktchen? Das Reh dankte ihm, nahm eine Gießkanne und begoss die Erdbeeren. Wie du mir, so ich dir! Funktionierte so Zusammenleben? Kurze Zeit später kam der kleine blaue Vogel in den Garten, schüttelte ein Staubtuch aus und zupfte das Unkraut zwischen den Erdbeerpflanzen heraus. Der Wichtel setzte sich mit einem Apfel auf die bank und schnitt ihn in kleine stücke. Willy kam herbeigeflogen, las ihm aus der Zeitung vor und Puh reichte ihm eins der Apfelstücke. Dann rief der Wichtel nach Zwitschi und gab ihm ebenfalls von dem Apfel. So friedlich konnte es einhergehen. Paul sah da ein großes Stück Arbeit auf sich zukommen, aber er war wild entschlossen sich zu ändern. Etwas Harmonie konnte seinem Leben schließlich auch nicht schaden.
Einige Wochen später, die Astern standen in voller Blüte, da brachte die Krähe Gundula einen Brief vorbei. Er war von Paul - Paul Kauz, dritte Birke, Waldweg 27. "Was will der denn noch", murrte Willy, als er den Absender las und sah demonstrativ zur Decke. "Vielleicht fragt er an, ob sein Milchreis endlich fertig ist?", schmunzelte Zwitschi. "Du hast die Sauerkirschen vergessen", entgegnete Willy angefressen. "Lasst uns den Brief doch erst einmal lesen", schlug Puh vor. "Ich weiß nicht", blieb Willy skeptisch. "Na komm schon, gib dir einen Ruck", ermunterte ihn Puh. Es war eine Einladung. Willy, Zwitschi und Puh waren herzlich im Kauzennest auf der Birke willkommen. "Ich will da nicht hin", sagte Willy. "Na komm schon und gib ihm eine zweite chance", meinte Zwitschi, "wenn ers versemmelt, "brüllst du einfach nach Eierkuchen mit Heidelbeeren und hältst ihm vor, dass er ein schlechter Gastgeber ist, wenn er nicht umgehend deinen Wünschen nachkommt." "Einverstanden", gab Willy nach und am nächsten Tag machten sie Paul einen Besuch.
"Herzlich willkommen", lud der sie in sein Nest ein, "macht es euch gemütlich." Und dann stellte er selbst gebackene Zimtschnecken, Schokoladenkuchen und Erdbeermilchshakes vor sie hin. Sie plauderten angeregt und Paul erzählte ihnen, dass es gar nicht so schwer war, sich zu ändern. Denn in dem Maße, wie er nett und freundlich wurde, wurden es die anderen Waldbewohner auch ihm gegenüber. Und das war ein tolles Gefühl. Inzwischen hatte er jede Menge freundschaften geschlossen, erfuhr ständig den brandaktuellen Zauberwaldklatsch und war mit seinem neuen Leben sehr glücklich. Auch mit Vetter Erwin hatte er inzwischen Frieden geschlossen. "So wie du jetzt bist, gefällst du mir jedenfalls tausend Mal Besser", strahlte Willy, "und ich bin Stolz sagen zu dürfen, dass du mein liebes Vetterchen bist. Ab heute werde ich dich ganz offiziell meinen Freund nennen." "Das hast du sehr schön gesagt. Und ich bin dir dankbar, weil du mich achtkantig rausgeschmissen hast. Und euch allen bin ich dankbar, weil ihr mir gezeigt habt, wie nett ihr miteinander umgeht." Puh und Zwitschi warfen sich verschwörerische Blicke zu. Sie wussten beide, dass das nicht immer so war, doch sie schwiegen still. Es genügte vollkommen, wenn Paul später davon erfuhr, wie bei ihnen manchmal die Fetzen flogen, viel später.