In der Waldschule

„Guten Morgen Zwitschi, steh auf, es ist Zeit für die Schule“, sagte Puh. Der kleine Vogel hatte seine Gehörgänge fest verschlossen und dachte gar nicht daran auch nur die kleinste Federspitze zu rühren. „Zwitschi!“, rief der Zwerg nun ernsthaft, „ich ruf' dich kein drittes Mal!“ Das sagte er allerdings, nachdem er Zwitschi bestimmt schon fünfmal gerufen hatte. Endlich klappte Zwitschi ein Auge auf und blinzelte verschlafen in die Sonne: „Was drängelst du hier rum, liegt etwas Wichtiges an?“ „Heute ist Schule.“ „Schule? Das ist kein Grund für so ein lautes Getobe rund um mein Körbchen.“ „Gerade du musst das sagen, wo du doch noch nicht mal drei plus vier rechnen kannst“, erinnerte ihn der Wichtel an seine schwachen Mathematikkünste. Zwitschi zeigte sich unbeeindruckt: „Die Rechnerei interessiert doch sowieso keinen. Ich muss nicht zählen, was ich futtere, ich fress' einfach so lange, bis ich satt bin.“ „Und was ist, wenn du sechs Weintrauben hast und deinem Lieblingswichtel die Hälfte abgeben sollst?“ „Dann schreist du schon, wenn ich eine zu viel im Schnabel zerdrücke.“ Zwitschi hatte sich während ihres Gesprächs aus dem Bett geschwungen und saß nun mit offenem Schnabel vor ein paar getrockneten Aprikosen. Puh musste lachen, weil der kleine blaue Vogel vor lauter Gähnen nicht zum Futtern kam. „Bin ich müde“, beklagte sich Zwitschi, „ich glaube meine Schwungfedern kommen nicht in Schwung.“ „Hast du überhaupt welche, so träge wie du da sitzt?“, schmunzelte Puh. „Erstaunlich, wie du es immer wieder schaffst mich aufzubauen“, maulte Zwitschi. Die Tür flog auf. „Morgen, ihr zwei, na Zwitschi, schon bereit für die Schule?“, fragte Willy fröhlich. Der Vogel, dem es gelungen war, eine der Aprikosen zwischen seinen vom Gähnen aufgesperrten Schnabel zu klemmen, gab nur unhöfliche Kaulaute von sich. „Ist er doch immer“, lachte Puh, der genau wusste, dass Zwitschi und die Schule nie Freundschaft schließen würden. „Hast du eigentlich das Gedicht gelernt?“, fragte das Käuzchen. „Was für 'n Gedicht“, fragte Zwitschi, der sich beinahe an seinem Frühstück verschluckt hätte, entsetzt. „Du bist witzig, na das Gedicht von dem Reh, das wir bis heute lernen sollten.“ „Hä?“ „Der tut doch bloß so“, beschwichtigte Puh den erstaunt dreinblickenden Kauz. Doch als er zu Zwitschi sah, der wild mit dem Schnabel im Lesebuch herumwühlte, sagte er: „O, das wird Ärger geben mit Agathe. Aber wir müssen jetzt los.“ Puh steckte Willys und Zwitschis Schulsachen in seinen Rucksack und ging mit den beiden zur Waldschule.

Im Klassenzimmer herrschte helle Aufregung. Nervosität hatte sich unter den Schultieren breitgemacht. Die Tauben Guru und Guri schlugen hektisch mit den Flügeln, Der Igel Stachelchen kratzte sich an der Nase, Hüpf, das rotbraune Eichhörnchen, kaute auf seinem Bleistift herum und der Hase Langöhrchen kippelte so lange mit seinem Stuhl herum, bis er donnernd umfiel. Sein Bruder Schnuffi half ihm wieder auf die Pfoten und klopfte ihm den Kreidestaub aus seinem Fell. Alles schnatterte durcheinander. Zwitschi und Willy sagten „Guten Morgen“. „Ihr seid aber spät“, sagte Schnuffi, „da habt ihr ja gar keine Zeit, noch mal das Gedicht vom Reh durchzulesen.“ „Das brauch' ich auch nicht, ich hab's in meinem Kauzengedächtnis gespeichert“, sagte Willy. „Und du?“, wollte Schnuffi von Zwitschi wissen. „Was um alles in der Welt für ein blödes Gedicht?“, fragte Zwitschi irritiert. Er hatte auf dem ganzen Schulweg darüber nachgedacht, doch es war ihm außer, dass er nur noch wenige Pinienkerne in Puhs Vorratsschrank entdeckt hatte, nichts Sinnvolles eingefallen. „Sag bloß, du weißt das nicht“, staunte Stachelchen. „Wenn ich wüsste, wovon ihr die ganze Zeit quasselt, wüsste ich, ob ich es weiß“, murmelte Zwitschi verzweifelt. „Schlag mal Seite achtzehn in deinem Lesebuch auf. Dort steht es“, sagte Guri. Und Zwitschi setzte sich auf seinen Platz neben Hüpf und besah sich mit weit aufgerissenen Augen die Bescherung:

Das Rehlein und der Steinpilz

Es war ein Rehchen noch ganz klein,
Das wollte gerne größer sein!
Es sah beim durch den Mischwald geh'n,
Einen hübschen Steinpilz steh'n!
Der Steinpilz sprach: „Ach friss mich nicht,
Ich bin doch nicht dein Leibgericht!“
Das Rehlein sprach: „Ist mir egal,
du wirst trotzdem mein Mittagsmahl!“
Der Pilz fing lauthals an zu schrei'n,
Da biss das Rehlein schon hinein!
Der Steinpilz schmeckte fürchterlich,
Entsetzt verzog es sein Gesicht!
Das Rehlein, was wollt' größer sein,
rannte in den Wald hinein!
Und suchte rote Beeren aus,
Die waren ein gelung'ner Schmaus!
Was lernen wir aus dem Gedicht?
Vom Steinpilz wachsen Rehe nicht!
Und hätt' der Pilz 'nen schön'ren Hut,
Dann wär' er noch zum Braten gut!

„Und ihr seid sicher, dass wir das Gedicht bis heute lernen sollten?“, Zwitschi war noch immer fassungslos. Die anderen Schultiere ließen ein „Ja, klar!“ vernehmen. „Wenn ich in der letzten Lesestunde bei Agathe so fest wie du geschlafen hätte, wüsste ich es auch nicht“, meinte Hüpf, „du bist nicht mal wach geworden, als ich dich mit meinem Bleistift in den Hintern gepiekst habe.“ Zwitschi senkte schuldbewusst das hübsche Köpfchen. „Der Arme“, sagte Langöhrchen bedauernd und auch Schnuffi legte mitleidig die Hasenohren nach hinten. Schließlich hatten sie alle schon mal etwas für die Schule zu tun vergessen. Dann beratschlagten sie, dass sie sich alle freiwillig zum Vortrag melden wollten, sodass Zwitschi als Letzter an die Reihe kam. Die Glocke ertönte und die Eule Agathe flog zur Tür herein.

„Guten Morgen“, wünschte sie freundlich, „ich hoffe, ihr habt alle fleißig gelernt. Wer von euch möchte als Erster das Gedicht aufsagen?“ Willy meldete sich. Sein Kauzengedächtnis ließ ihn nicht im Stich und er bekam eine Eins. Danach folgten die Tauben, die Hasen, Hüpf und Stachelchen. Grabi, der kleine Maulwurf war nun an der Reihe. Er zitterte und bebte und brachte alles durcheinander, sodass er Folgendes vortrug:

Das Rehlein und der Steinpilz

Es war einmal ein Rehlein klein,
Das wollte gern ein Steinpilz sein!
Und als es durch den Mischwald ging,
Am Baum ein großer Apfel hing!
Unter dem Baum stand ein Steinpilz fein,
Der sollte Rehleins Mahlzeit sein!
Der Steinpilz sprach: „Du kannst mich haben,
Und dich an meinem Hute laben!“
Das Rehlein sprach: „Das werd' ich tun,
Pass gut auf, ich fress' dich nun!“
Was lernen wir aus dem Gedicht?
Tut mir leid, ich weiß es nicht!

Die Schultiere schüttelten sich vor Lachen. Nur Zwitschi nicht, dem schwante Übles. Auch Agathe konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Am besten, du sammelst dich noch mal. Wir hören zuerst Schaufelchen und Zwitschi und dich nehme ich ganz am Schluss noch einmal dran.“ „Danke“, sagte Grabi, setzte sich auf seinen Platz und steckte die Nase ins Buch. Sein Bruder Schaufelchen bekam eine Zwei und nun war die Reihe an Zwitschi. Dem zitterten die Flügel, als er schwankenden Schrittes vor die Klasse trippelte. Und das kam dabei heraus:

Das Rehlein und der Steinpilz

Es war einmal ein Reh,
Dem schmerzte es im Zeh!
Es hatte sich gestoßen,
Am Steinpilz, dem ganz großen!
Das Rehlein sprach: „Oh Schreck,
der böse Pilz muss weg!“
Drum hat es ihn gefressen,
Und seinen Schmerz vergessen!

Wieder hallte das Gelächter durchs Klassenzimmer. Agathe sagte: „Mit dem Gedicht hat das nicht all zu viel zu tun. Ich glaube, ich nehme dich nach Grabi noch mal dran.“ „Nicht nötig“, stammelte Zwitschi, „dann wird es auch nicht besser. Ich habe das Gedicht nicht gelernt.“ „Weil du wenigstens ehrlich bist, gebe ich dir bis morgen Zeit. Dann muss ich dich aber benoten.“ „Ist gut“, sagte Zwitschi geknickt und schlich auf seinen Platz. Hüpf tröstete ihn und strich ihm mit der Pfote übers blaue Köpfchen: „Ich helfe dir heute Nachmittag beim Lernen“, versprach das Eichhörnchen und Zwitschi nickte dankbar. Grabi hatte inzwischen seinen zweiten Anlauf genommen. Dreimal kam er ins Stocken, doch auf wundersame Weise fand er den richtigen Text wieder. Aber die Eule glaubte nicht an Wunder. Sie hatte mit ihren scharfen Ohren genau gehört, dass Willy vorgesagt hatte. Grabi bekam eine Drei und war überglücklich. Gedichte waren nicht seine Sache, er werkelte lieber im Schulgarten herum. Das war eher was für einen Maulwurf.

Die Glocke ertönte und nach der Pause wurde bei Puh gerechnet. Der Zwerg legte jedem Schultier acht Erdbeeren auf die Bank und ließ sie durch vier und zwei teilen. Das klappte schon ganz gut. Nur bei Stachelchen gab es ein Problem. „Wenn ich die Beeren durch zwei teilen will, habe ich einmal drei und einmal vier“, sprach er kauend. Puh lachte: „Das mit dem Minus wäre meine nächste Aufgabe gewesen. Also, wenn ihr jetzt eine von den acht Beeren esst, Stachelchen, du nicht, bei dir ist es ohnehin eine weniger, wie viele habt ihr dann?“ „Sieben“, krähte Zwitschi. Er war froh, etwas gewusst zu haben. Die Sache mit dem Gedicht nagte noch an ihm. Und auch wenn Rechnen nicht seine Stärke war, die Subtraktion von Erdbeeren traf genau seinen Geschmack.

Puh ging nach der Schule mit Willy, Zwitschi und Hüpf an den Waldsee. Dort gab es ein wunderschönes Grillenkonzert und die Schmetterlinge zeigten ihre neuen Tanzformationen. Aber der kleine blaue Vogel nahm keine Notiz davon. Er steckte mit seinem Schnabel im Lesebuch fest. Gegen Abend hatte er das Gedicht zu Hüpfs Zufriedenheit intus und das Eichhörnchen war davon überzeugt, dass Zwitschi es nicht blamieren würde. Denn schließlich war Hüpf so etwas wie Zwitschis Lehrer. „Ich bin stolz auf dich, kleiner Vogelfreund“, sagte Hüpf. „Danke“, murmelte Zwitschi.

Am nächsten Tag lieferte Zwitschi einen sehr guten Vortrag ab. Er verwechselte „zum Braten gut“ nur mit „zum Futtern gut“. Aber das war auch kein Wunder. Bei Puh hatte es nur einen kümmerlichen Müsliriegel für Zwitschi gegeben. Der Wichtel musste erst neue Sonnenblumenkerne sammeln. Hoffentlich war ihm das bis zur Frühstückspause gelungen.