Die Geschenkefee

Puh saß am warmen Ofen in seinem Zwergenhaus und stopfte seine Socken. „wenn dieser verflixte Vogel nicht andauernd Löcher hineinfressen würde“, murmelte er. Da klopfte es leise an die Tür. Puh legte seine Näharbeit zur Seite und öffnete. „Hallo Zwitschi. Komm schnell rein“, sagte er. „Brrrr, ist das eine Kälte draußen. Fast wäre mir der Schnabel zugefroren.“ „Das wäre gar nicht so übel“, dachte der Zwerg, aber er sagte: „Ich habe ein schönes Feuerchen im Ofen. Mach's dir gemütlich.“ Zwitschi trippelte zu Puhs Sessel und ließ sich hineinplumpsen. „Nicht hinsetzen!“, rief der Zwerg noch, aber es war schon zu spät. „Nun will ich dir mal was über Ordnung erzählen“, sagte Zwitschi und zog mit dem Schnabel die Stopfnadel aus seinem Hintern, „Nadeln gehören in den Nähkorb. Man drapiert sie nicht auf einem Sessel. Und in einen Zwitschi steckt man sie schon gar nicht. Ich bin doch kein Nadelkissen.“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich Puh, „aber dank deiner gütigen Mithilfe sind mir die Socken ohne Löcher ausgegangen.“ „Such die Schuld nicht bei mir. Du musst dir bestimmt mal wieder die Zehennägel schneiden.“ „Das sind eindeutig Schnabelspuren“, verteidigte sich Puh und wedelte mit einem besonders zerfetzten Exemplar vor Zwitschis Schnabel herum. „Dass das mal 'ne Socke war, musst du erst beweisen!“ „Wenn ich sie nicht schon gewaschen hätte, könntest du es Riechen“, knurrte der Zwerg. „Mal angenommen, ich würde dir die Socken zerfressen, krieg' ich dafür einen roten oder einen goldenen Stern von der Geschenkefee?“, wollte Zwitschi wissen. „Geschenkefee? Wie kommst du denn darauf?“, fragte der Wichtel. „Na Willy hat mir gesagt, dass die Fee heute Nacht durch den Wald fährt und den Bewohnern Geschenke bringt“, sagte Zwitschi. „Und? Was hat das mit meinen Socken zu tun?“ „Eigentlich nichts. Es ist nur so, dass die Fee alles weiß, was wir übers Jahr tun. Und für jede gute Tat gibt es einen goldenen Stern, für alles andere einen roten. Überwiegen die goldenen Sterne, bekommt man ein Geschenk.“ „Ich fürchte bei dir sieht es tief rot aus“, schmunzelte Puh. „Das kann nicht sein. Ich habe mein bestes Benehmen an den Tag gelegt“, ereiferte sich Zwitschi. „Das war dein Bestes? Dann möchte ich dein Schlechtes nicht kennenlernen.“ „Ich werd's dir trotzdem zeigen, damit du den Unterschied merkst. Wunder dich also nicht, wenn bald Löcher in deinen Unterhosen sind“, sagte Zwitschi und huschte in sein Schlafkörbchen. Puh lachte in sich hinein. Da hatte sich der Kauz ja etwas Schönes ausgedacht. Und das Beste war, dass der kleine Vogel auf diese verrückte Sternengeschichte hereingefallen war. Oder stimmte sie etwa doch? „Eins, zwei, drei, viele“, zählte der Wichtel, „wenn ich für jedes misslungene Zauberstück einen roten Stern bekommen habe, gibt es in diesem Jahr keinen Pfefferkuchen.“

Am nächsten Morgen waren Puh und Zwitschi schon früh auf den Beinen. „Bin ich aufgeregt“, sagte Zwitschi und trat von einem Fuß auf den anderen. Puh stand vor dem Spiegel und putzte sich die Zähne. „Darf ich in den Garten und mein Geschenk suchen?“ „Lass die Tür zu, ich steh' hier noch im Nachthemd“, brummte Puh und trocknete sich das Gesicht ab. „Bist du denn gar nicht aufgeregt?“, fragte Zwitschi fassungslos. „Ich verstehe deine Vorfreude gar nicht, du hast sowieso nichts bekommen.“ „Hab' ich doch“, kreischte Zwitschi und setzte sich auf die Türklinke. Die Tür sprang auf und der Vogel flatterte in den Garten. „Zwitschi! Ich erfriere!“, schrie Puh, doch sein Ruf verhallte ungehört.

Der kleine Vogel flog zielstrebig auf einen Stiefel zu, den er extra für die Geschenkefee aufgestellt hatte. „Ich hab' was, ich hab' was“, zwitscherte er vergnügt und zerrte eine kleine Tüte Sonnenblumenkerne hervor. Ein in Papier eingeschlagenes Lebkuchenherz steckte auch noch drin. „Puh, hilf mir mal, das krieg' ich nicht raus.“ Der Zwerg war inzwischen auch im Garten. „Mach' ich und wenn ich nichts in meinem Stiefel finde, helfe ich dir beim Auffuttern.“ „Das kann ich allein, danke“, sagte Zwitschi. Puh holte das Lebkuchenherz hervor und brachte es ins Zwergenhaus. Zwitschi war zufrieden und folgte ihm.

„Hu, hu“, jammerte es draußen. Als Puh in den Garten zurückkehrte, fand er Willy, der zerknirscht vor seinem Stiefel saß. „Ich hab' nur Schnee“, schluchzte das Käuzchen. Puh sah für sein eigenes Geschenk schwarz. Wenn Willy nichts bekommen hatte außer Schnee, was war da in seinem Stiefel - vielleicht eine vertrocknete Erdnuss oder ein verschrumpelter Apfel? Aber warum war Zwitschi so reichlich beschenkt worden? „Vielleicht sollte ich nächstes Jahr selbst Löcher in meine Socken fressen oder Zwitschi ein paar Federn ausreißen?“, überlegte der Zwerg. Für Willy würde sich auch noch was finden. Oder doch lieber nicht? Zu Puhs Überraschung befanden sich aber Mandarinen, Nüsse, Äpfel und Lebkuchen in seinem Stiefel. „Ich will auch ein Geschenk“, wimmerte Willy. „Komm erst mal mit ins Haus“, sagte der Wichtel, da er fürchterlich fror. Das Käuzchen trippelte hinterdrein.

Zwitschi saß am Tisch und fraß genüsslich schmatzend seine Sonnenblumenkerne. „Habt ihr auch was?“, fragte er ohne aufzusehen. „Schnee“, jammerte Willy. „Siehst du, hättest du dir bloß ein Beispiel an mir genommen“, plusterte sich der kleine Vogel auf. Puh entfuhr ein gequälter Seufzer. Willy liefen heiße Tränen über den Schnabel. „Komm Willy, ich geb' dir was von meinem Lebkuchenherz ab“, sagte Zwitschi versöhnlich. „Nein, ich will ein Eigenes.“ „Bevor wir noch in Willys Tränensee ertrinken, möchte ich etwas vorschlagen. Willy, du und ich, wir fliegen der Schlittenspur der Fee hinterher. Das ist zwar verboten, aber wir haben hier einen Notfall. Mein Zwergenhaus ist schließlich kein Hallenbad.“

Und so folgten Willy und Puh der Schlittenspur. Sie führte quer durch den ganzen Zauberwald. Die Geschenkefee hatte offenbar alle Behausungen der Zauberwäldler aufgesucht. Puh konnte es deutlich sehen. Willy auch, er schüttelte sich unter Tränen. „Sogar die Hasenkinder haben was bekommen“, heulte er. „Aber bestimmt nur verbrannte Plätzchen“, versuchte Puh seinen Kauzenfreund zu trösten. Doch der wollte es nicht glauben. Endlich kamen sie vor eine schneebedeckte Hütte mit langen Eiszapfen am Dach. „Die Spur endet hier. Das muss die Hütte der Geschenkefee sein“, vermutete Puh. Er klopfte an die Tür. Eine zierliche Dame, in weißen Pelz gehüllt, kam heraus. „Entschuldigung“, sagte Puh, „aber Willy, der Kauz hier, hat kein Geschenk bekommen.“ „Willy?“, fragte die Geschenkefee, „ein Päckchen hab' ich noch und wenn ich's mir recht überlege, könnte es für Willy sein. Ich habe die ganze Nacht nach einem leeren Stiefel gesucht und konnte keinen finden.“ Puh ging ein ganzer Kronleuchter auf: „Der Schneehaufen hat ihn unter sich begraben!“, rief er. Willy strahlte von einem Ohr zum anderen, als ihm die Geschenkefee ein Lebkuchenpaket überreichte. Und als er sah, dass Dominosteine Und Printen unter den Leckereien waren, kannte seine Freude keine Grenzen. Er schlang seine Flügel um die Geschenkefee und gab ihr mit seinem Schnabel einen dicken Schmatzer auf die Nasenspitze. Dann verabschiedeten sich die beiden und Puh schwang sich, nachdem er sich drei Mal in die Nase gekniffen und auf Fluggröße geschrumpft war, wieder auf Willys rücken. Die Geschenkefee band das Lebkuchenpaket mit einer rosafarbenen Schleife an Willys stärkster Feder fest und stellte es vor den Zwerg hin, damit er es ein wenig festhalten konnte. Nun konnte der Rückflug beginnen. Leider war es inzwischen schon ziemlich hell geworden. Willy hatte alle Mühe, den Bäumen auszuweichen, die auf die beiden zurasten und Puh schrie immer wieder entsetzt auf, wenn die Tannenzweige mit ihren kalten weißen Schneemützen sein Gesicht streiften.

Nachdem der Zwerg das Lebkuchenpaket in Willys Nest gebracht hatte, kletterte er von der Kastanie und erreichte sichtlich erleichtert das Zwergenhaus. Zwitschi hatte Feuer im Ofen gemacht und brütete über einem Kreuzworträtsel. Puh setzte sich in seinen Sessel und schlief sofort ein. So entging ihm auch, dass der kleine Vogel unter zwei senkrecht, bei der Frage nach einem scheuen Waldtier mit drei Buchstaben, Puh eintrug, nur weil es passte und auch mit h endete. Als der Zwerg im Traum jedoch eine riesige Eiche auf sich zukommen sah, schreckte er hoch. „Jetzt brauche ich erst mal einen Lebkuchen zur Beruhigung.“ Und Puh musste sich viel beruhigen, denn das Lebkuchenpaket war schon am Abend aufgefuttert.