Die Kuchendiebe

„Und bis morgen lest ihr euch den Text über den Fliegenpilz durch“, sagte Puh und schickte die Schultiere nach Hause. „Endlich Ruhe! Ich werde sie nutzen und mir mal die Waldkundearbeiten anschauen.“ Als der Zwerg die Arbeitshefte der Schultiere durchschaute, war er sehr überrascht: „Wie konnten die bei dem ganzen Geschnatter nur so viel mitbekommen. Erstaunlich!“ Es war wirklich erstaunlich. Keiner seiner Schüler schnitt schlechter als drei ab, obwohl Puh sehr verwundert war, dass ausgerechnet Hüpf daran glaubte, dass Eichhörnchen ihre Jungen ausbrüteten. Nun fehlte nur noch Zwitschis Arbeit. „Hat der etwa von Hüpf abgeschrieben?“, murmelte er in seinen Bart, „der schreibt ja auch, dass Eichhörnchen Eier legen.“ Doch als der Wichtel mit der Korrektur fortfuhr, mehrten sich die Falten auf seiner Stirn: „Wie kommt der nur darauf, dass Mäuse Igel fressen? Woher hat er bloß, dass man Rettich einpflanzen muss, wenn man Tulpen züchten will? Und warum um alles in der Welt schreibt er, dass Laubbäume im Winter Nadeln bekommen?“ Puh stärkte sich mit einem Stück Schokoladenkuchen. Er musste seine angekratzten Nerven beruhigen. Da gab man sich Mühe und wollte Zwitschi etwas beibringen. Wenn er die Arbeit dieses kleinen blauen Vogels ansah, hätte er auch einen verschrumpelten Apfel unterrichten können. Doch was war das? Am Ende des Blattes hatte Zwitschi Folgendes vermerkt: „Puhchen, dreh' das Blatt herum, dann siehst du gleich, der Zwitschi ist nicht dumm.“ Tatsächlich standen auf der Rückseite die korrekten Antworten. „Na warte du“, brummelte Puh, „ich ignoriere sie einfach und gebe dir eine fette Sechs. Rache ist süß!“ Seinen letzten Gedanken bestätigte er sich mit einem zweiten Stück Schokoladenkuchen.

„Wir sind hier“, riefen Grabi und Schaufelchen, als sie im unterirdischen Labyrinth der Maulwurfsfamilie angekommen waren. „Na wie war's in der Schule?“, fragte Scharri, die Maulwurfsmutter. „Grabi kann es nicht wissen, der hat die ganze Zeit geschlafen“, petzte Schaufelchen. „Na wenigstens musste ich nicht vor die Tür, weil ich während der ganzen Mathestunde mit Stachelchen gequatscht habe.“ „Ich sehe schon“, seufzte Scharri, „es war eigentlich wie sonst auch.“ Aber als ihr ihre Kinder die Mathearbeiten zeigten, in denen sie jeweils eine Zwei geschrieben hatten, war sie doch ein wenig stolz auf ihren Nachwuchs. Grabi hatte etwas erschnüffelt. „Es duftet herrlich nach Schokolade, was machst du da?“ „Einen Geburtstagskuchen für Papa Wühli“, sagte Scharri lächelnd, „vielleicht bastelt ihr ihm eine kleine hölzerne Werkzeugkiste? Ich bin es leid ständig auf seine Schrauben und Nägel zu treten und mir den großen Zeh an seinen Schraubenschlüsseln zu stoßen.“ „Prima Idee“, jubelte Schaufelchen. Eigentlich hatten die beiden kleinen Maulwürfe ein schönes Gedicht für ihren Vater schreiben wollen, aber alle bisherigen Versuche waren hoffnungslos missglückt. Die Idee ihrer Mutter kam ihnen gerade recht. Freudestrahlend begannen sie in ihrem Kinderzimmer zu sägen und zu hämmern. Sie waren eben kleine Handwerker und keine großen Poeten.

Papa Wühli war aus seinem Hobbykeller in den Wohngang übergesiedelt und las die "Waldnachrichten". Doch irgendetwas störte ihn. War es vielleicht dieser betörende Duft aus Richtung Küche? Das musste er dringend untersuchen. Vorsichtig machte sich Wühli auf in den Küchengang. „Aua“, rief er, „was liegt denn hier für ein Ding?“ Als er sich bückte, bemerkte er, dass da sein Hammer lag. „Was ist denn los?“, fragte Scharri interessiert. „Ach nichts“, sagte Wühli, der nicht zugeben wollte, dass er sein Werkzeug wieder einmal herumliegen lassen hatte und schlich in den Hobbyraum. „Na dann ist es ja gut“, sagte Scharri und schmunzelte, denn sie hatte die Falle selbst aufgestellt, damit er nicht zu ihr in die Küche kam. Nun war der Kuchen endlich abgekühlt. Scharri schnitt ihn in kleine Stücke und richtete sie auf einer gläsernen Kuchenplatte an. Dann fiel ihr Blick auf die Küchenuhr. Es wurde Zeit für das Abendessen. Scharri verteilte den vorbereiteten Obstsalat und rief: „Kommt essen, meine Lieben!“

Wühli kam aus dem Hobbyraum zurück, verfing sich in einer Drahtschlinge und stürzte der Länge nach zu Boden. Diese Falle hatte er sich selbst gestellt, als er die Schlinge achtlos dort fallen lassen hatte, nachdem er damit seinen Pantoffel hinter dem Sofa hervorgeangelt hatte. Grabi und Schaufelchen kamen aus ihrem Kinderzimmer geflitzt und setzten sich an den Küchentisch. Auch Wühli, der sich unter leisen Flüchen hochgerappelt hatte, gesellte sich zu ihnen. Während Scharri es sich schmecken ließ, schnüffelten Wühli, Grabi und Schaufelchen sehnsüchtig. „Wer will schon das gesunde Zeug, wenn es nach Schokoladenkuchen duftet“, flüsterte Grabi. „Nicht so laut“, schimpfte Schaufelchen, „Papa soll es doch nicht wissen.“ „Ach das glaubst auch nur du, dass der noch nichts gemerkt hat. Ich seh's an seiner Nasenspitze, der weiß genau Bescheid“, sagte Grabi. Als Scharri den Tisch abräumte, waren drei der vier Obstschalen noch fast voll. Sie ahnte, was ihren drei Männern die Lust auf Obst geraubt hatte, aber den Geburtstagskuchen gab es erst morgen. Leider konnte man noch nicht geruchlos backen. Schaufelchen und Grabi halfen ihrer Mutter noch beim Abwasch. Dann gingen alle zu Bett und es wurde still bei Familie Maulwurf.

„Du Grabi“, flüsterte Schaufelchen spät in der Nacht, „Denkst du das, was ich denke?“ „Wenn du an Kuchen gedacht hast, denke ich das, was du denkst“, sagte Grabi. „Man merkt, dass wir Brüder sind. Wir haben nicht nur die gleichen Eltern, sondern auch den gleichen Appetit“, meinte Schaufelchen stolz. „Komm, wir stehen auf und stibitzen ein kleines Stückchen“, schlug Grabi vor. „Auch im Geiste sind wir Brüder“, Schaufelchen war einverstanden. Sie verließen die wohlig warmen Betten und schlichen sich in die Küche. „Aua“, schrie Grabi flüsternd, „da liegt eine von Papas Reißzwecken.“ „Ein Glück, dass die Werkzeugkiste fertig ist“, meinte Schaufelchen. Lauschend blieben sie eine Zeit lang stehen. Nichts rührte sich. „Los weiter“, sagte Grabi. Als die Küche erreicht war, atmeten sie tief durch. „Der Kuchen ist bestimmt im Ofen versteckt“, vermutete Schaufelchen und er sollte recht behalten. Vorsichtig zogen sie die Kuchenplatte heraus und stellten sie auf den Tisch. „Komm, nur ein kleines Stückchen“, sagte Grabi. „Einverstanden“, meinte Schaufelchen. Aus dem einen kleinen Stückchen wurden zwei kleine Stückchen, dann drei, vier, fünf, sechs ... „Oje, jetzt ist nichts mehr da“, stellte Grabi fest. „War doch klar, wenn noch zwei Stücke da waren und du und ich eins nehmen, muss die Kuchenplatte ja leer sein", meinte Schaufelchen. "Was jetzt?", fragte Grabi. „Was schon! Erst mal sind wir satt oder nicht?“, sagte Schaufelchen und unterstrich seine Bemerkung mit einem lauten Rülpser. „Brüder bei der Sättigung“, sagteGrabi und tat es ihm gleich. Dann lauschten sie in die Dunkelheit. Die Maulwurfseltern hatten offenbar nichts vom nächtlichen Ausflug ihrer Kinder bemerkt und das sollte auch so bleiben. "Los, rein mit der Kuchenplatte in den Ofen und weg von hier“, flüsterte Grabi. Schaufelchen war von den Fluchtplänen seines Bruders durchaus angetan. Er fühlte sich aber so voll, dass er kaum noch laufen konnte. „Mir schleift auch der Bauch fast auf dem Boden“, gab Grabi zu. Endlich erreichten sie ihre Betten.

Wühli wachte spät in der Nacht auf. Auch ihm fiel sofort wieder dieser leckere Kuchen ein. „Es ist sowieso schon nach Mitternacht. Ich habe quasi Geburtstag. Also darf ich auch ein Stück Geburtstagskuchen probieren“, machte er sich Mut. Er schlich sich an der friedlich schlafenden Scharri vorbei. „Aua“, jaulte er leise auf. „diese blöden Reißzwecken. Wie kommen die bloß hier her?“ Zum Glück hatte seine Maulwurfsfrau nichts bemerkt, das konnte er erlauschen. „Leise Schliche, in die Küche“, murmelte er vor sich hin. Als er aber den Backofen aufriss, stand darin eine leere Glasplatte. „Guter Witz“, maulte Wühli, „jetzt hat sie wohl schon von Puh Schoko-Aroma zum Austricksen verfressener Ehemänner bekommen. Bestimmt wollte sie mich auf die Probe stellen. Sicher hat sie schon längst bemerkt, dass ich dann und wann mal ein kleines Kuchenstückchen stibitze. Und ich bin darauf reingefallen. Jetzt schnell zurück ins Bett, bevor ihre Falle zuschnappt und sie mich hier erwischt.“ In der Hast schlug er die Ofentür so heftig zu, dass Scharri erwachte. Und als Wühli auf leisen Pfoten das Wohnzimmer durchqueren wollte, lief er gegen sie.

„Was machst du an meinem Ofen?“, fragte Scharri. „Ich hab' da etwas knistern gehört und wollte kontrollieren, ob er auch wirklich aus ist“, versuchte er es. Aber seine Ausrede war äußerst kläglich ausgefallen. „Im Lügen bekämst du von mir eine glatte Sechs“, sagte Scharri und sah nach. „Na, hat er dir geschmeckt?“, fragte sie wütend. „Wer?“, fragte Wühli mit Unschuldsmiene. „Frag nicht so blöd, der Kuchen“, sagte sie. „Hätte er bestimmt, wenn welcher im Ofen gewesen wäre. Aber du hast ja offensichtlich nichts Besseres zu tun, als mich mit Schokokuchen-Aroma hinters Licht zu führen.“ „Jetzt reicht es aber. Sieh genau hin, da liegen noch ein paar Krümel. Die hast du wohl vergessen.“ „Krümel? Zeig her“, sagte er und stürzte sich darauf. „Lecker, wirklich lecker, wo hast du den Rest versteckt? Das kann doch nicht alles gewesen sein.“ „Ich habe keine Ahnung, wo der Kuchen ist“, sagte Scharri, „versteckt habe ich ihn nicht. Aber wenn ich sehe, wie ausgehungert du dich auf die paar Brösel stürzt, kannst du unmöglich den ganzen Kuchen vertilgt haben.“ Das Rätsel war nicht zu lösen. Der Kuchen blieb verschwunden. Und die Maulwurfseltern verschwanden im Bett.

Zwei Stunden später jammerte Grabi: „Ist mir schlecht.“ „Mir auch“, sagte Schaufelchen. „Brüder in der Übelkeit?“, fragte Grabi. „Brüder“, antwortete Schaufelchen. „Ich glaube, mein Bauch explodiert gleich“, sagte Grabi. „Meiner bestimmt auch“, meinte Schaufelchen. Die Nacht war vorbei. Seufzend rieben sie sich die Bäuche und hofften, dass niemand ihnen auf die Schliche kommen würde.

Aber schon am Frühstückstisch verrieten sie sich. Keiner nahm auch nur einen Bissen Brot zu sich und auch von den Weintrauben wollten sie nichts wissen. Außerdem sahen sie ungewöhnlich blass aus und Grabi entgleisten die Gesichtszüge, als seine Mutter ihm das Pausenbrot reichte. „Ist euch nicht gut?“, fragte Wühli. „Doch doch“, sagten sie hastig, „aber heute bekommen wir unsere Arbeiten in Waldkunde zurück und da sind wir eben aufgeregt.“ Scharri und Wühli lächelten. Sie hatten die beiden Diebe durchschaut.

„Guten Morgen“, begrüßte Puh seine Schüler. „Guten Morgen“, grüßten sie den Wichtel. Puh ging zwischen den Bänken herum und teilte die Arbeitshefte aus. Zwitschi schaute aufgeregt hinein: „Puh, Puh, du hast mir ja eine Sechs gegeben!“ „Kein Wunder, du Meister der eierlegenden Eichhörnchen und igelfressenden Mäuse“, lachte Puh. "Hast du schon mal an Käseigel gedacht", warf Zwitschi ein. Puh kicherte. Es fiel ihm sichtlich schwer, ernst zu bleiben. "Käseigel steht da aber nicht, sonst hätte ich dir vielleicht noch eine Fünf gegeben. Jedenfalls war deine Arbeit die schlechteste von allen. Aber was kann ich von dir schon erwarten", sagte er und sah Zwitschi fest in die Augen. „Aber ich bin doch gar nicht so dumm, hast du die Seite nicht umgedreht?“ „Wie? Was?“, tat Puh verwundert. „Na, die Seite in meinem Heft.“ „Puh?“ „Ja, was ist Grabi?“, fragte der Zwerg. „Darf ich raus, mir ist schlecht.“ „Mir auch“, ergänzte Schaufelchen. Als der Zwerg ihre blassen Gesichter sah, nickte er. Die Maulwürfe sprangen gleich durchs Fenster und rannten ins Gebüsch. „was ist denn mit denen los? Grabi hat doch eine eins und Schaufelchen eine Zwei?“, wunderte sich Puh. „Aber ich, ich habe eine Sechs und das ist unfair“, nahm Zwitschi den Faden wieder auf. „Wie soll ich es dir erklären, damit du es verstehst. Zwitschi, es gibt eine Tulpenzwiebel, aber keinen Tulpenrettich. Und jeder vernünftige Laubbaum verliert im Winter seine Blätter. Die Dinger mit den Nadeln gibt es das ganze Jahr. Man nennt sie Nadelbäume. Und die bekommen ihre Nadeln nicht als Laubersatz. Die haben seit sie sich aus der Walderde gewühlt haben Nadeln.“ „Weiß ich doch, dreh doch bitte mal das Blatt herum und du siehst es.“ Puh ging zu Zwitschi an den Platz und folgte dessen Anweisung: „Tatsächlich, da stehen ja die richtigen Antworten. Die hast du gerade von Willy, deinem Kauzenfreund, abgeschrieben. Gib es zu.“ „Nein, bitte glaub mir doch“, heulte der Vogel auf. Puh konnte nicht mehr an sich halten und musste lachen. Seinen blau gefiederten Mitbewohner so entsetzt zu sehen, war ihm eine Freude. „Das ist der gerechte Ausgleich für den Schrecken, den du mir gestern eingejagt hast“, grinste er. „So und jetzt kommen wir zu den Pilzen. Nennt mir einen Speisepilz. Ja, bitte, du Grabi!“ „Darf ich noch mal raus, mir wird schon wieder übel“, jammerte der Maulwurf. „Mir auch“, ergänzte sein Bruder. „Was hattet ihr bloß zum Frühstück“, murmelte Puh, „verfaulte Äpfel? Na egal, raus mit euch und dann geht ihr bitte nach Hause und kuriert euch aus. Ihr bekommt heute eh nichts vom Unterricht mit.“ Die beiden Maulwürfe sprangen wiederum gleich zum Fenster hinaus. „So und jetzt zu den Pilzen. Nennt mir einen Speisepilz.“ „Butterpilz“, sagte Stachelchen, der kleine Igel. „Champignon“, sagte Hüpf, das rotbraune Eichhörnchen. „Marone“, sagte Willy. „Ziegenlippe“, sagte Zwitschi. „Pfifferling“, sagte Guri, die hübsche weiße Taube. „Steinpilz“, sagte Fuchs Listig. „Fußpilz“, sagte Guru, der Täuberich. Alle lachten. „Was kann ich dafür, dass ihr die ganzen guten Pilze schon genannt habt.“ „Wie wär's denn mit Hallimarsch gewesen“, meldete sich Zwitschi großklappig zu Wort. „Hallimasch“, verbesserte Puh. „Sag' ich doch“, tat Zwitschi beleidigt, „du musst eben mal die Ohren putzen.“ „Putz du lieber deinen Schnabel, dir rollen sonst immer so unsinnige rs raus“, konterte Puh.

Inzwischen hatte Scharri einen neuen Kuchen gebacken. Der Stand duftend auf dem Tisch. Wühli brachte die Teekanne aus der Küche und sie warteten, bis ihre Kinder aus der Schule kamen. Grabi und Schaufelchen waren natürlich nicht sofort nach Hause gegangen. Sonst wäre den Eltern aufgefallen, dass irgend etwas nicht stimmte. „Hallo, da seid ihr ja endlich“, rief Scharri fröhlich, „setzt euch zu uns. Es gibt ein leckeres Stück Geburtstagskuchen.“ Wieder entgleisten den beiden Kuchendieben die Gesichtszüge und sie rannten hinaus. Wühli lief ihnen hinterher. „Was ist denn mit euch los?“ „Alles in bester Ordnung“, würgte Grabi. „Na dann ist es ja gut, kommt mit rein, wir wollen Kuchen essen.“ Das war zu viel. Beide Maulwurfskinder sprangen hinter den nächsten Busch. „Ist was?“, fragte Wühli. „Nichts ist“, beteuerten die beiden Diebe. „Oder habt ihr noch von heute Nacht genug?“, fragte er. „Woher weißt du es?“, fragte Grabi. „Ganz einfach, ich war auch auf Kuchenjagd, konnte aber dank euch, abgesehen von einem Rüffel eurer Mutter und ein paar kläglichen Krümeln, keine Beute mehr machen.“