Der Nesträuber

Der Kauz Willy saß auf seiner Bettkante und machte Dehn- und Streckübungen, als er plötzlich laut aufjaulte und im Nest herumhüpfte. „Doofer Wadenkrampf“, wimmerte er und stieß sich den Fuß am Vorratsschrank. „Auch das noch.“ Schmerzverzerrt betastete er seine Krallen. „Ich glaube für die Mäusejagd bin ich heute zu ramponiert. Mal sehen, was sich noch im Obstkorb findet.“ Willy flog auf den Küchenschrank und sah ärgerlich auf zwei verschrumpelte Äpfel und ein paar vor sich hingärende Weintrauben. „Nein danke, dann muss ich eben sehen, ob Puh noch was Genießbares im Haus hat.“ Frustriert packte er die Trauben mit dem Schnabel und warf sie aus dem Nest. Danach folgten die beiden Äpfel. „Aua!“, schrie es von unten, „die Kastanien fallen aber heuer schon früh vom Baum.“ Dann entdeckte Pünktchen, dass es zwei Äpfel waren. Gierig machte sich das Reh darüber her. Willy sah es und verzog angewidert das Gesicht. „Du frisst auch alles“, sagte er. „Gar nicht wahr,“, verteidigte sich Pünktchen, „die vergammelten Trauben, die du zuerst aus dem Nest geschmissen hast, fress’ ich nicht. Übrigens, wenn du schon mal hier bist, ich hab’ da ein paar lästige Kletten im Fell sitzen, könntest du sie mir mal eben auszupfen? Schließlich war ich ja dein Müllschlucker.“ „Einverstanden“, nickte der Kauz und machte sich an PünktchensFellpflege. Er setzte sich auf den Rücken des Rehs und zupfte mit dem Schnabel die Kletten heraus. „Oh schön“, murmelte das Reh verträumt und bald schon war es eingeschlummert. „Ich verzieh’ mich“, überlegte Willy und spreizte die Flügel, „die Gelegenheit ist günstig.“ Doch der kleine Müllschlucker bemerkte das und legte Protest ein: „Mach weiter.“ „Hätte ich die Äpfel bloß selber gefressen“, fluchte Willy und setzte die kosmetische Behandlung fort. Endlich schlief Pünktchen so fest, dass es die Fluchtpläne des Käuzchens nicht mehr vereiteln konnte und so gelangte Willy zum Zwergenhaus. Die Tür war zu. Also hämmerte er mit dem Schnabel dagegen und machte mit lauten „Uhu“-rufen auf die Dringlichkeit seines Besuches aufmerksam.

„Draußen bleiben“, hörte er eine muntere Vogelstimme von drinnen, Zwitschi legte keinen Wert auf eine Unterbrechung des Spieleabends mit seinem Lieblingswichtel. Er war gerade so schön am Zug. „Warte mal, Willylein, ich mach’ dir auf“, flötete der Zwerg, dem nichts Besseres passieren konnte, und spurtete zur Tür. Welch ein Glück, dass Willy kam. Schon sieben Mal hatte Puh beim Mensch-ärgere-dich-nicht den Kürzeren gezogen. Und Zwitschi lag auch schon in der achten Runde hoffnungslos vorn. Der Wichtel hatte schon versucht, seine Spielfiguren aus dem Fenster zu schmeißen, doch der kleine blaue Vogel hatte sie immer wieder hereingeholt und aufgestellt.

„Ein Glück, dass du vorbeischaust“, atmete Puh erleichtert auf, „der kleine blaue Nervtöter hat mich voll im Griff.“ „Wer hat denn versprochen eine ganze Nacht mit mir zu spielen?“, maulte Zwitschi. „Spielen, ja - verlieren, nein“, gab Puh zurück, „übrigens Willy, willst du mitspielen? Vielleicht verlierst du ja für mich.“ „Nachher vielleicht. Mich hat der Hunger hergetrieben. Auf Jagd kann ich nämlich nicht gehen, schließlich habe ich einen verletzten Fuß und mein Bein tut mir von so einem doofen Wadenkrampf immer noch weh. Meine vegetarische Küche bleibt wegen ungenießbaren Inhalts besser geschlossen. Hast du vielleicht etwas Obst für mich?“ Puh schaute in seine Obstschale. Dort lagen drei saftige Pfirsiche, vier rotbackige Äpfel und acht süße Aprikosen. „Komm rauf auf den Küchenschrank und lass es dir schmecken“, sagte der Zwerg und ging schleppenden Schrittes zum Spielbrett zurück. Zwitschi brauchte noch eine Drei, dann war er fertig. Und Puh? Der hatte noch alle vier Figuren auf Anfang stehen. Nachdem der Wichtel dank zweier Sechsen zwei Figuren aufs Spielfeld geführt hatte, würfelte Zwitschi seine Drei und kugelte sich vor Lachen. „Willy, hilf mir“, jammerte der Zwerg. „Moment noch, nur noch eine Aprikose“, schmatzte der Kauz. „Och komm Puh, so schnell, wie du verlierst, schaffen wir noch ‚ne Runde, bevor Willy mitspielt“, quengelte der kleine Vogel. „Ich glaub’, ich muss mal, und nein, das duldet keinen Aufschub“, sagte der Zwerg schnell und flitzte davon. „Drückeberger“, maulte Zwitschi und setzte alle Figuren auf Anfang. Auch für Willy standen nun welche bereit.

Und so saßen sie lange beieinander und spielten. Puhs Pechsträhne hielt weiterhin an. Wenigstens etwas, worauf sich der Wichtel absolut verlassen konnte. „Gut, dass du mitspielst“, feixte Zwitschi, „sonst wäre Puh trotz seiner schlechten Würfelei immerhin noch zweiter. Nun haben wir ihn auf den dritten Platz gesetzt.“ „Und das ist noch geschmeichelt. Schließlich hat er in sieben Runden nur ganze zwei Figuren ins Ziel geräumt“, ergänzte Willy und plusterte vor Lachen seine Federn auf. „Ach lasst mich doch mit eurem Mist in Ruhe“, schimpfte der Zwerg und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Figuren flogen quer durchs ganze Zimmer. Puh verschränkte trotzig die Arme und starrte aus dem Fenster. Willy und Zwitschi suchten die Spielfiguren zusammen. „Hoffentlich findet ihr wenigstens meine nicht“, grummelte Puh, „dann hört dieser Quatsch endlich auf.“ Inzwischen war es drei Uhr morgens und als die beiden gefiederten Freunde alles wiedergefunden hatten, waren sie müde. Zwitschi fiel in sein Schlafkörbchen und schlief sofort ein. „Ich mach’ mich jetzt auch auf die Flügel“, sagte Willy zu Puh, der in kleinen Schlucken an einem Baldrian-Tee zur Beruhigung nippte. „Gute Nacht Willy“, wünschte der Zwerg. „Gute Nacht Puh, wenn du etwas Trost brauchst, du findest mich in meinem Nest.“ Und damit war er zur Tür hinaus. Der Wichtel kramte unterdessen nach seinem Zauberbuch. Es musste doch irgendwo einen Zauber für ein glückliches Händchen im Spiel geben. Vorsichtshalber beschloss er allerdings seinen Würfel im Blumentopf zu vergraben.

Als Willy in den Garten kam, hörte er Pünktchen zufrieden schnarchen. „Jetzt bloß keinen Lärm verursachen“, dachte der Kauz, „sonst muss ich noch ‚eine Sonderschicht schieben.“ Fast lautlos breitete er die Schwingen aus und flog zu seinem Nest auf der Kastanie empor. Als Willy hineinschlüpfte, hörte er ein zufriedenes Schnarchen. Erschrocken fuhr er zusammen. Das konnte doch nicht Pünktchen sein. Aber wer dann? Willy drehte den Kopf und spitzte aufgeregt die Ohren. Irrtum ausgeschlossen, das Schnarchen kam aus seinem Bett. „Hilfe, ein Einbrecher“, schoss es ihm durch den Kopf. Was sollte er tun? Es selbst mit diesem Eindringling aufnehmen? Das kam überhaupt nicht infrage. Schließlich war er angeschlagen. Wenn die Nachwirkungen dieses doofen Wadenkrampfs und die Sache mit dem Fuß nicht wären, ja dann ... Aber nun war er einfach zu schwer lädiert. Welche Möglichkeiten hatte er noch? Im Garten schlafen? Absurde Idee, zu kalt. Hier bleiben? Hier in dieser Räuberhöhle? Unmöglich, er war doch nicht verrückt. Willy sah nur eine einzige Möglichkeit: Puh musste her, egal wie und dem Einbrecher Beine machen. Schließlich stand Willys Kastanie ja in seinem Garten. Und für den Zwergengarten war bekanntlich der Zwerg verantwortlich. Ohne Puh fühlte sich Willy jedenfalls zu schwach, man konnte schließlich nicht wissen, welches grässliche Ungeheuer in das Kauzennest eingedrungen war. Er hatte schon in seinem Märchenbuch gelesen, dass sich böse Geister auf die Größe einer Fliege zusammenziehen konnten und wenn man sich ihnen mutig entgegenstellte, bliesen sie sich auf und wuchsen ins Unermessliche. Da durfte er nichts riskieren. Also ging es für Willy zurück zum Zwergenhaus.

Es brannte noch Licht. Puh war also noch wach. Willy setzte sich aufs Fensterbrett und klopfte leise mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Der Zwerg sah erschrocken von seinen Zauberbüchern hoch. „Was ist denn los?“, fragte er, nachdem er das Fenster geöffnet hatte. „Ein Einbrecher ist in meinem Nest und hat mein Bett in Beschlag genommen“, erwiderte Willy und sein Schnabel klapperte. „Wieso hast du ihn nicht vertrieben?“, stellte Puh eine eher rhetorische Frage. „Wenn nicht heute Abend diese verflixte Sache mit dem Fuß und dieser doofe Wadenkrampf dazwischen gekommen wären, ja dann, aber so …. In meinem schwer lädierten Zustand bin ich wirklich kampfunfähig. Außerdem steht meine Kastanie ja in deinem Garten und da hab’ ich gedacht ...“ „Ach so ist das, ich verstehe“, lachte Puh „als guter Gastgeber werde ich mich mal um deine Angelegenheiten kümmern und mich auf die Socken zu deinem Nest machen. Bleib du hier in meinem Zwergenhaus, da bist du sicher.“ „Soll ich dich nicht auf die Kastanie rauffliegen?“, fragte Willy. Doch sein Schnabel schlug so heftig aufeinander, dass Puh sagte: „Ich klettere gern. Vor allem um halb vier morgens.“ Willy schämte sich, er wusste, dass das nicht stimmte.

Puh kroch keuchend und schwitzend am Stamm der alten Kastanie hoch. Als der Zwerg das Nest erreicht hatte, ruhte er sich auf einem Ast davor aus. „Huh“, stöhnte er vollkommen außer Atem. „Wo bist du denn? Willylein, mach weiter mit meiner Schönheitspflege“, sagte Pünktchen unten halb verschlafen. „Hä?“, fragte Puh irritiert. „Ach hä hast du gesagt, ich hab’ huh verstanden. Dann hat sich der Kauz also verkrümelt“, murmelte das Reh verträumt und schnarchte weiter. Puh hatte sich inzwischen erholt und war in das Nest vorgedrungen. Tatsächlich, das Schnarchen war deutlich zu vernehmen. Willy hatte sich also nichts eingebildet. Wie schade. Puh hatte darauf spekuliert. Nun musste er etwas unternehmen. Aber eigentlich waren Unternehmungen um halb vier am Morgen gar nicht so gesund für Zwerge. Vielleicht wartete er besser bis zum Mittag? Aber dann musste er zurück zu Willy und zugeben, dass er sich ebenfalls fürchtete. Er konnte sich auch den Fuß stoßen und sich kampfunfähig melden, genau wie der Kauz. Aber war das nicht geradezu lächerlich? Und hier bleiben, das kam auch nicht infrage, er war ja nicht verrückt. Im Garten schlafen? Zu kalt! „Ein Zwerg muss eben tun, was der Kauz nicht tun Will“, machte sich Puh Mut. Er Zündete eine Kerze an und schlich sich zu Willys Bett. „Hüpf!“, schrie er überrascht auf, „Was machst du denn hier?“ „Hüpf wer?“, fragte das Eichhörnchen mit schwerer Zunge. „Na du natürlich! Oder siehst du noch einen anderen Hüpf?“ „Ich seh’ gar nichts, ich hab’ die Augen zu“, zeigte sich das Eichhörnchen wenig kooperativ. „Was machst du hier?“ „Ich schlafe, wenn du nichts dagegen hast“, lallte Hüpf und sah den Wichtel aus glasigen Augen an, „Raus aus meinem Nest, du Wurzelmännchen!“ „Das ist nicht dein Nest, das gehört Willy“, sagte Puh. „Das ist nicht mein Nest?“, fragte Hüpf angesäuselt und gähnte. „Genau, du Rauschkugel, endlich hast du’s kapiert. Du steckst unter Willys Federn.“ „Federn, hä, was, wie, welche Federn? Lass mich zufrieden, ich will doch einfach nur schlafen.“ Der Wichtel hatte es noch nie mit einem betrunkenen Eichhörnchen zu tun gehabt und beschloss, Hüpf ausschlafen zu lassen und der Sache später auf den Grund zu gehen.

Als Puh zurück im Zwergenhaus war sagte er: „Der Einbrecher in deinem Nest ist nur unser lieber Hüpf. Der hat nämlich ordentlich einen gezwitschert und sich in deinem Bett zur Ruhe begeben.“ „Hä, wie jetzt, Hüpf hat gezwitschert?“, fragte Willy ungläubig. „Na ja, er hat eben einen in der Krone“, startete Puh den nächsten Versuch, Willy die Lage zu erklären. „Er hat einen wo?“, stutzte der Kauz. „Kapierst du nicht“, wurde der Wichtel langsam ungeduldig, „er hat einen sitzen!“ „Ich versteh nur Bahnhof“, seufzte Willy und sah den Wichtel verwirrt an. „Verflixt und zugewichtelt noch mal, er hat einen Schwips“, zischte Puh zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor. „Wieso hast du das nicht gleich gesagt?“, fragte der Kauz dem endlich ein Licht aufging, „und ich fürchte, ich kenne den Grund für seinen Schwips. Hüpf hat bestimmt die vergorenen Trauben gefressen, die ich gestern Abend aus meinem Nest geschmissen habe.“ „Willy, Willy!“, stöhnte Puh, „also schön, wir können es nicht ändern. Am besten, du schläfst auf meinem Sofa und wir sehen in ein paar Stunden weiter.“ Und so machten sie es auch.

Als Puh und Zwitschi um zehn beim Frühstück saßen, kam Hüpf zur offenen Tür herein. Er schwankte noch leicht, aber sein Blick war wieder klar. „Guten Morgen. Was Wollte ich denn eigentlich in Willys Bett?“, fragte Hüpf. „Du hast gedacht, es ist deins“, sagte Puh. „Woher willst du das wissen?“ „Das hast du mir selber heute Morgen um halb vier gesagt.“ „Ach so, na dann, mir war schon so, als hätte mich jemand vollgequatscht im Schlaf. Du warst das also. Irgendwas muss mit den Trauben nicht in Ordnung gewesen sein, die ich gestern in deinem Garten gefunden habe.“ „Stimmt genau, die hat Willy gestern ausgemistet, weil sie vergoren waren.“ „Tut mir der Kopf weh“, jammerte Hüpf. „Nimm dir einen Schluck Erdbeer-Tee“, bot ihm Zwitschi mitleidig an. Das Eichhörnchen setzte sich zu den beiden an den Tisch. Nun wurde auch Willy wach. „Guten Morgen, du Nesträuber“, sagte er und gesellte sich zu ihnen, „normalerweise hätte ich dich gestern Nacht aus meinem Bett vertreiben wollen, aber zu meinem tiefsten Bedauern musstest du mit Puh vorlieb nehmen.“ „Genau so hast du ausgesehen, als du zitternd zu mir gekommen bist“, lachte Puh. „aber ganz bestimmt hätte ich s, wenn ...“, behauptete Willy. „... nicht dieser doofe Wadenkrampf und diese verflixte Sache mit dem Fuß gewesen wären“, unterbrach ihn Puh und strahlte übers ganze Gesicht.