Aus die Maus

Ein milder Frühlingshauch stahl sich durch das offene Schlafzimmerfenster des Zwergenhauses und kitzelte Puh in der Nase. Puh erwachte niesend und streckte sich genüsslich. Die Sonne lachte ihm ins Gesicht und so sprang der Wichtel freudestrahlend aus dem Bett, machte ein paar Kniebeugen und begab sich fröhlich pfeifend unter die Dusche.

Wenig später saß er bei einer duftenden Tasse Cappuccino am Frühstückstisch und biss herzhaft in ein herrlich Cross gebackenes Käsebrötchen. Sein Blick schweifte in den Garten hinaus, hinüber zum Springbrunnen, wo das Reh Pünktchen gerade von dem kristallklaren Wasser trank, hinauf in den Kirschbaum, wo Zwitschi seine Federn putzte und … Das konnte doch nicht wahr sein! Puh schloss die Augen. Vorsichtig öffnete er sie wieder einen Spaltbreit. Das Bild blieb das gleiche. Das durfte es doch nicht geben. Augen wieder zu und noch ein letzter Versuch. Jetzt noch einmal ganz tief durchatmen und die Augen langsam wieder öffnen! Das Bild blieb wie in Stein gehauen. Puh ließ das Brötchen fallen und rannte in den Garten. Was war mit seinen Tulpen passiert. Quer durch das Beet zogen sich aufgewühlte Gänge. Die Pflanzen waren zur Seite gekippt, die Blüten schleiften in der braunen Erde, die Tulpenzwiebeln waren zerfressen. Wühlmäuse! „Willy!“, schrie Puh entrüstet, „Willy, komm sofort hier her!“ Zielsicher hatte der Wichtel den Schuldigen ermittelt. Schließlich waren Käuzchen als Mäusejäger geradezu berüchtigt. Nur Willy bildete da wieder mal eine unrühmliche Ausnahme.

Hoch oben im Kauzennest tropfte Willy der Schnabel. Das Wichtelfräulein Luzie hatte ihm einen mit Kirschen und viel Schlagsahne gefüllten Windbeutel vorbeigebracht. Und das nur, weil er ihr gestern die Wäscheklammern gereicht hatte. Welch fürstliche Entlohnung für diesen kleinen Gefallen! Er hatte gerade den knusprigen Brandteig-Deckel abgehoben, als Puhs Ruf ertönte. Offenbar verlangte der Wichtel nach seinem Typ. Also ab hinunter in den Garten. „Was gibt’s denn so Wichtiges“, erkundigte sich Willy. „Na das hier!“, brüllte Puh und zeigte auf die Verwüstung in seinem Tulpenbeet. „Das war ich nicht“, verteidigte sich Willy, der sich keiner Schuld bewusst war. Dann ergänzte er: „Sieht verdächtig nach Wühlmaus aus.“ „Stimmt genau“, bestätigte Puh. „Aber ich hab die Viecher doch nicht hier her gelockt“, meinte Willy. „Aber auch nicht vertrieben“, konterte Puh. „Dann sieh mal genau hin“, versetzte Willy und deutete mit einem Kopfnicken auf ein Pappschild, das in einer Ecke des Beetes stand. „Zutritt für Wühlmäuse verboten!“, stand in großen rot leuchtenden Buchstaben darauf. „Toll“, zischte Puh, „und wie glaubst du sollen das die Wühlmäuse in ihren unterirdischen Gängen lesen?“ „Ich hab's doch gewusst“, sagte der Kauz, „ich hätte es eingraben sollen.“ „Dann hättest du eine Taschenlampe mit eingraben müssen, damit die Wühlmäuse auch die geeignete Lesebeleuchtung vorfinden“, lachte Puh verbittert. Willy wollte sich davonmachen. Was interessierten ihn diese dussligen Wühlmäuse wenn ein Berg Schlagsahne auf ihn wartete. Er hatte da so seine Prioritäten. Puh im Übrigen auch, nur waren seine ganz andere. „Hiergeblieben! Vielleicht machst du dir wenigstens die Mühe und vertreibst die Mistviecher mit ein paar kräftigen huhus“, verlangte der Wichtel. „Kräftig? Du hast Wünsche! Woher, glaubst du, soll die Kraft kommen, wenn du mich aus meinen sahnigen Frühstücksträumen reißt?“ „Und nach deinen Frühstücksträumen beginnen die Tagträume.“ „Genau“, gähnte Willy und stahl sich davon. Puh sah schwarz für seine Osterglocken.

„Wir könnten den Wasserschlauch anstellen und deinen Garten fluten“, schlug Zwitschi vor. Er konnte nicht mit ansehen, dass der Kauz sich einfach verdrückte, obwohl Not am Vogel war. „Super Idee! und meine restlichen Blumenzwiebeln schwemmen wir gleich mit aus. Wie überaus konstruktiv du doch bist. Du übertriffst Willy beinahe noch an Genialität“, fauchte Puh und riss Willys Pappschild aus der Erde. „Was heißt hier eigentlich beinahe?“, plusterte sich Zwitschi stolz auf, „das Schild war ebenfalls meine Idee.“ „Aber deine größte Eingebung bleibt unübertroffen die, dass meine Zahnbürste die ideale Massagebürste für deine Füße ist.“ „Fängst du schon wieder damit an“, war Zwitschi beleidigt. Dieser Wichtel stellte sich aber auch albern an. Vor fünf Tagen hatte er ihn bei einer ausgiebigen Fußmassage ertappt und einen Riesenaufstand gemacht. Was bitteschön war an seinen wohlgepflegten Füßen so unappetitlich, dass Puh es nicht an seiner Zahnbürste haben mochte. Wenn er hier nicht erwünscht war, konnte er ebenso gut einen kleinen Ausflug zum Waldsee unternehmen. Das hatte man nun von seiner Hilfsbereitschaft!

Puh setzte sich auf die Gartenbank. Wie konnte er diese verflixte Mäusebande nur loswerden. Vielleicht konnte er rings um die Blumenbeete die grässlichen Lavendel-Vanille-Duftkerzen verteilen, die ihm Kobold Wuschel kürzlich geschenkt hatte, und mit deren Hilfe die kleinen Nager ausräuchern. Aber was zum Kuckuck sollte er Luzie dann zum Geburtstag schenken? Er könnte sich auch ein kräftiges Zwiebelsüppchen kochen und dem Ausräuchern eine persönliche Note verleihen! Aber dann würde der heutige Zumba-Kurs ein einziges Fiasko werden! Und wenn er den guten Blauschimmelkäse opferte und in den Gängen verstreute? Zwitschi konnte er damit aus dem Haus jagen. Aber Wühlmäuse aus dem Beet? Probleme über Probleme!

„Na Puh“, stupste Pünktchen den Wichtel sanft am Arm, „haben sie dich schmählich im Stich gelassen?“ Puh nickte traurig. „Mir ist da etwas eingefallen. Da gab es mal so eine Geschichte von einem Rattenfänger und der hat mit einer Flöte …“ „Und du glaubst ernsthaft, dass ich Flöten spielend durch den Zauberwald renne und die Mäuse hinter mir herlocke.“ „In deinem speziellen Fall ist das viel einfacher. Ich hab dich nämlich flöten hören. Du brauchst dich nur in den Garten zu stellen, lässt die Flöte ertönen und beobachtest, wie sich die Mäuse in Scharen verflüchtigen.“ Sollte das etwa eine unterschwellige Kritik an seinen Flötenkünsten sein? Puh hatte keine Zeit, den Beleidigten zu spielen. Er ging ins Zwergenhaus und suchte das Instrument heraus. Da war es ja schon. Nun ging er zurück in den Garten und begann zu musizie…, na gut, wir wollen mal nicht übertreiben, sagen wir lieber, der Flöte Töne zu entlocken. Pünktchen hatte angesichts des bevorstehenden Ereignisses schon längst die Flucht ergriffen. Nur Zwitschi, der nichtsahnend auf einem Zaunpfahl saß, um die herumgaukelnden Schmetterlinge zu beobachten, wurde eiskalt erwischt. Die Misstöne lösten bei ihm einen Fluchtreflex aus. Er versuchte zu entkommen. Doch er zog nur unkoordinierte Kreise im Einzugsgebiet der Flötentöne. Hoffentlich ließ Puh sein Können nicht erschallen, wenn im Herbst seine Vogelfreunde in den Süden ziehen wollten. Das würde zu massenhaften Notlandungen im Zauberwald führen. Zitternd sank der kleine blaue Vogel zu Boden und versuchte sich verzweifelt mit den Flügeln die Ohren zuzuhalten.

Doch so sehr sich Puh auch mühte, kein einziges Mauseohr ließ sich blicken. Kein einziges Mäuseschwänzchen huschte vor ihm davon. Wahrscheinlich hatte er die Biester hypnotisiert. Und wenn sie wieder aus ihrer Erstarrung erwachten, würden sie den Osterglocken den Garaus machen. Puh ging mit hängendem Kopf zurück ins Zwergenhaus und kochte sich einen Baldriantee.

Willy Kauz hingegen wurde Putzmunter. Was waren das für herrliche Töne unten im Garten. Sein Vormittagsschläfchen war vergessen. Dort unten musste das lieblichste Kauzenmädchen der Welt hocken und ihn anhimmeln. Für wen außer ihn war dieser traumhaft schöne Gesang denn sonst bestimmt. Doch nicht etwa … Willy schoss, wie von der Tarantel gestochen, hoch und warf die pinke Bettdecke von sich. Paul Kauz! Vielleicht hatte der die reizenden Töne längst vernommen und war in den Zwergengarten gekommen, um ebenfalls um die Gunst dieses bezaubernden Geschöpfs zu werben. Na warte, diesen unliebsamen Konkurrenten musste Willy unbedingt ausstechen. Flugs legte sich der Kauz sein neongelbes Schaltuch um und lauschte angespannt. Ein huhuhu war deutlich vernehmbar, aber nicht mehr das liebliche von vorhin, nein irgendwie unmelodischer und krächzender. Paul, wenn ich dich mit meiner Angebeteten erwische, gibt’s Saures. Willy schwang sich aus dem Nest. Seine Federn waren auf Krawall gebürstet. Er hatte diese zarte Stimme zuerst gehört! Ganz bestimmt! Außerdem war sie in seinem Revier aufgeklungen, jawohl, das stand fest. Paul musste weg und zwar sofort. Als Willy in den Garten hinabsegelte konnte er außer Paul weit und breit keine Kauzenfeder entdecken. „Wo ist sie? Du hast sie doch nicht etwa verschreckt?“, polterte Willy. „Wo ist wer?“, stellte sich Paul dumm. „Na wer wohl, das Kauzenmädchen, das so wunderschön für mich gesungen hat, natürlich“, erklärte Willy bestimmt. „Für dich gesungen?, sie hat sich garantiert nur im Baum geirrt, das steht für mich jedenfalls außer Frage“, stänkerte Paul. „Du denkst wohl, du bist hier der Superkauz, komm her, dann zeig ich dir, wer von uns beiden die größere Flügelspannweite hat“, Willy warf sich in den Kampf. „Ruhig Blut, lassen wir sie doch selbst entscheiden, wer ihre Nummer eins ist“, meinte Paul begütigend. „Wie soll sie sich denn für mich entscheiden können, wenn sie nicht hier ist?“, fragte Willy. „Wie kommst du bloß drauf, dass sie sich für dich entscheiden könnte, wenn sie so einen Spitzentypen wie mich haben kann“, konterte Paul. Und dann versuchten sie gemeinsam die liebliche Kauzendame herbeizulocken, um den Streit endgültig zu klären. Huhuhu, huhuhu, schallte es durch den Zwergengarten.

„Das nenn ich Einsatz“, freute sich Puh, der durchs Fenster beobachten konnte, wie sich ein ganzer Pulk von Wühlmäusen durch das Gartentor zwängte. Die beiden Käuzchen gaben ihnen noch ein paar huhus mit auf den Weg. Richtig so, dachte der Zwerg. Dabei hatte er überhaupt nicht den Eindruck gehabt, dass sich Willy für sein Wühlmausproblem interessierte. Was hatte diesen plötzlichen Sinneswandel nur bewirkt? Na egal, aber jetzt, wo schon seit mehr als zehn Minuten kein Mäuseschwänzchen mehr zu sehen war, konnten die beiden Käuzchen eigentlich auch ihre Stimmbänder schonen. Wahrscheinlich waren sie so sehr bei ihrem Einsatz aufgeblüht, dass sie es nicht bemerkt hatten. Puh ging zu ihnen hinaus: „Hört auf, ihr habt die Wühlmäuse längst vertrieben!“ „Welche Wühlmäuse?“, fragte Paul entgeistert. „Wen außer Puh interessieren schon diese blöden Viecher“, winkte Willy lässig ab, „ich frag mich nur, wo zum Kauzenohr sie steckt?“ „Welche sie?“, wollte Puh nun wissen. „Also ich nenne sie zärtlich mein kleines Federfüßchen und Paul nennt sie sein Federöhrchen, aber bei weitem nicht so zärtlich wie ich“, erklärte Willy. „Und wer soll das sein?“ „Na, das liebliche Kauzenmädchen, das vorhin in deinem Garten gesungen hat.“ Puh rieb sich nachdenklich die Nasenwurzel. Kauzenmädchen? Vorhin in meinem Garten? Die meinen doch nicht etwa… Der Zwerg eilte ins Haus, kramte seine Flöte hervor und entlockte ihr … bleiben wir der Einfachheit halber mal bei … Töne.

„Sie ist im Zwergenhaus!“, kreischte Paul begeistert auf und Willy jagte hinter ihm drein. Er versuchte ihn sogar rechts zu überholen, aber Paul drängte ihn geschickt ab, da war an Vorbeifliegen nicht einmal zu denken. Dann eben unter ihm durch. Paul bemerkte es sofort, ließ sich tiefer sinken und versperrte Willy die Flugbahn. Willy kochte vor Wut und nahm gerade Anlauf, um Paul von hinten einen herzhaften Rempler zu verpassen. Was würde der für eine komische Figur abgeben, wenn er taumelnd vor der gefiederten Schönheit auftauchte. Welche gefiederte Schönheit eigentlich? Willy sah enttäuscht, wie Puh auf der Blockflöte spielte und sank entkräftet zu Boden. Sein Adrenalinspiegel sank ebenfalls. „Ist nicht mein Typ. Willy das Feld überlass ich dir gern“, seufzte Paul resigniert und verschwand. „Mein Typ ist er leider auch nicht, sind zu wenig Federn dran“, lachte Willy und machte ebenfalls kehrt. Puh nahm die Flöte, lächelte verschmitzt und pfiff ihnen noch ein bisschen hinterher.