Auf Talentsuche

Eine rostrote Schubkarre verließ quietschend den Zwergengarten. Zwitschi winkte dem kleinen Kobold, der sie schob, munter mit den Flügeln und pfiff ihm ein fröhliches Lied zum Abschied. Nachdem er ihm zum siebten Mal treuherzig versichert hatte, nicht zu naschen, bevor es ihm erlaubt wurde, hatte Wuschel endlich den Rückweg angetreten. Der kleine Vogel flog nun auf die alte Kastanie direkt vors Kauzennest und rief: "Willy, komm sofort runter in den Garten! Kobold Wuschel hat gerade ein Fässchen Honig für unseren Lieblingswichtel vorbeigebracht und Puh ist weit und breit nicht zu sehen." Der Kauz warf seine Bettdecke mit dem eleganten Rosenmuster zur Seite und verließ auf schnellen Schwingen sein Nest. Er gesellte sich zu Zwitschi und natürlich auch zum Honigfässchen in den Zwergengarten. "Komm lass uns beide mal ein wenig von dem Honig naschen", schlug der Kauz vor, "wir müssen doch probieren, ob die goldene Delikatesse überhaupt schmeckt, bevor sie Puh in Gläschen füllt und an die Zauberwaldbewohner verteilt." "Ich denke, du hast recht, ein Geschmackstest kann nicht schaden", stimmte ihm Zwitschi zu, "Wuschel hat mir zwar verboten ohne Erlaubnis zu naschen. Aber jetzt, wo du es genehmigst, geht es schon in Ordnung. Schließlich hat er nicht darauf bestanden, dass Puh mir grünes Licht geben muss" Damit setzte er sich auf den Rand des Fässchens. Willy nahm ihm gegenüber Platz. "Der Honig duftet verführerisch", sagte der Kauz verträumt. "Ja", stimmte ihm Zwitschi zu, "dann lass uns mal prüfen, ob diese cremige Köstlichkeit geschmacklich das hält, was ihr betörender Duft verspricht." "Lass uns zunächst einmal den fleißigen Bienen danken, die den Nektar gesammelt haben", meinte Willy. "Danke!", war Zwitschi kurz angebunden und wollte gerade sein Schnäbelchen ins Fässchen tauchen, da: "Stopp! Ich sagte doch, wir wollen den Bienen für ihre fleißige Arbeit danken", zeigte sich Willy unerbittlich. "Das machen wir erst, wenn wir probiert haben", gab Zwitschi zurück. "Also schön, dann lass uns kosten", meinte Willy. "Wird auch höchste Zeit, nicht dass uns Puh noch erwischt." Und so senkten sich zwei Schnäbel zum Honig hinab. Plötzlich durchtoste ein ohrenbetäubender Lärm den Zwergengarten. Kreischen, quietschen, es war nicht zu beschreiben. Willy fuhr zusammen. "Das ist bestimmt ein Zeichen", flüsterte der Kauz ängstlich, "wir sollen nicht naschen, bevor Puh es erlaubt." Auch Zwitschi hatte innegehalten. Doch als der Lärm verstummt war, schien ihn der Honigduft noch stärker in den Nasenlöchern zu kitzeln. Ein Tröpfchen konnte doch nicht schaden. Und wenn er sich diesmal ein wenig mehr beeilte? Ruckartig senkte er das blaue Köpfchen ins Honigfässchen. Da! Wieder erfüllte eine überlaute, äußerst unmelodische Tonfolge den ganzen Garten. Willy stellten sich alle Federn auf. Und Zwitschi hatte sich so erschrocken, dass er mit seinem Köpfchen ganz untergetaucht war. "Schmeckt", sagte er als er klebrig triefend vom Rand des Fasses herunterflog und zum Springbrunnen hinübersauste, um eine kleine Dusche zu nehmen. "Zwitschi du hättest nicht naschen dürfen! Genau in dem Moment, als du eingetaucht bist, setzte dieser schreckliche Lärm wieder ein. Ich bin mir inzwischen vollkommen sicher, dass es ein Zeichen ist. Die Bestrafung wird bestimmt grausam sein", sagte der Kauz und zitterte am ganzen Körper. Da trötete es erstickt. "Grausamer als das, kann keine Strafe sein", gab Zwitschi munter zurück, "aber mal im Ernst, ich denke, mit uns hat das hier wenig zu tun. Komm mal mit. Ich glaube, es kommt aus dem Geräteschuppen." "Aha", meinte Willy spöttisch, "es fehlt noch, dass du behauptest, Spaten, Harke und Schubkarre haben eine Band gegründet." "Unsinn! Wozu haben wir denn unseren Wichtel? Bei dem ist schließlich alles möglich." Zwitschis letzter Satz wurde beinahe von dem erneut einsetzenden Getröte eines offenbar total verstimmten Blasinstrumentes übertönt. Willy musste ganz dicht an den kleinen blauen Vogel heranrücken, um ihn verstehen zu können. Bei dieser Gelegenheit putzte er noch ein Tröpfchen Honig von Zwitschis Stirn. "Du hast recht. Der Honig schmeckt", stellte der Kauz zufrieden fest. Der Lärmpegel ebbte langsam wieder ab. "Also was ist, schauen wir zusammen nach, was die Ursache für das Getöse ist oder muss ich's im Alleinflug tun, weil du dich nicht traust?", fragte Zwitschi herausfordernd. Willy wollte sich nicht nachsagen lassen, dass er ein Feigling war, schlug aber vor: "Gut ich komm mit, aber du fliegst voraus." "Hab ich es mir doch gedacht, du bist ein Hasenfuß." "Stimmt nicht, ich bin mutiger, als es scheint", plusterte sich der Kauz auf, "ich gebe dir schließlich Rückendeckung." "Oh, ja, das ist sicher gut, wenn die Gefahr von vorne droht", feixte Zwitschi und flog voraus.

"Was ist das nur", schrie der Kauz so laut er konnte, als sie am Schuppen anlangten. "Warte ab, das haben wir gleich", brüllte Zwitschi zurück und schob die angelehnte Tür auf. "Puh!", entfuhr es Willy. Der Kauz hatte keine Sekunde daran geglaubt, dass der Zwerg diesen schrecklichen Lärm verursacht hatte. "Hab' ich's nicht gesagt", sagte Zwitschi triumphierend und seine Brust schwoll auf das Doppelte an. "Puh?", fragte Willy, der immer noch verblüfft war, "was genau machst du hier?" "Verschiedenes", erklärte der Zwerg, "Posaunen, Trompeten, Flöten, Tuba spielen. All diese Instrumente hab ich schon getestet, aber irgendwie scheinen sie allesamt verstimmt zu sein." "Verstimmt bist wahrscheinlich nur du. Wieso schlägst du diesen schrecklichen Krach denn überhaupt?", fragte Zwitschi. "Ich probe, weil ich unbedingt beim Talentwettbewerb der Wichtel mit einer eigenen Nummer auftreten möchte, um mein geneigtes Publikum zu erfreuen", erwiderte Puh. "Wieso versuchst du es nicht einmal mit Gesang?", fragte Willy Kauz sanft. Schließlich hatten Puhs Proben gerade erst begonnen und wenn das so weiterging sah er auf seine Ohren schwere Zeiten zukommen. "Das kann ich dir sagen", erklärte Zwitschi, "er kann nicht singen." "Kann ich wohl", behauptete Puh, "es ist nur so, dass Gesang keine wirkliche Herausforderung für mich ist." "Nur für alle in seiner näheren Umgebung", gluckste Zwitschi und seine rosa Schmuckfeder färbte sich knallpink vor Vergnügen. "Wie wäre es mit einer Tanzdarbietung?", klopfte Willy Puhs Möglichkeiten weiter ab. "Tanzen? Nein, das ist auch nicht das Richtige für mich. Ich will doch nicht, dass die anderen Wichtel vor Neid erblassen." "Zumindest soll Luzie, als sie mit dir das letzte Mal getanzt hat ganzschön blass um die Nasenspitze gewesen sein, wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß", lachte Zwitschi, "und danach hatte sie zwei Wochen einen dicken Zeh." "Woher willst du das wissen?", brummte Puh verstimmt. "Aus zuverlässiger Quelle, das sagte ich doch eben...", gab Zwitschi zurück, der seinen Informanten nicht preisgeben wollte. "Verstehe", unterbrach der Wichtel mürrisch seinen blau gefiederten Freund. Wieso vertraute er Paul Kauz solche Geschichten eigentlich immer wieder an. Wenn sie nachher sowieso der ganze Zauberwald kannte, konnte er doch gleich mit Hilfe eines Megafons eine Durchsage machen. "Er kann doch aber allein ...", unternahm Willy einen letzten verzweifelten Versuch, weil er den Gedanken an eine Tanzdarbietung des Wichtels noch nicht so recht aufgeben wollte. "... sich auf die Füße steigen und herumstolpern", ergänzte Zwitschi herzlos. "Ich brauche eure tollen Ratschläge überhaupt nicht. Ich habe meine wahre Berufung längst gefunden. Mir fehlt nur ein gut funktionierendes Instrument", knurrte der Zwerg und setzte eine Mundharmonika an die Lippen. "Halt! Halt!", schrien die zwei gefiederten Freunde wie aus einem Schnabel und schlugen die Flügel über ihren Köpfen zusammen. Doch es war zu spät. Puh hatte schon hineingeblasen. "Bitte! Nein! Tu es nicht noch einmal!", flehte der Kauz inständig. Doch der Wichtel hatte bereits selbst gemerkt, dass die Mundharmonika auch nicht das war, was er suchte. "Wie wäre es mit einer Pantomime?", fragte Zwitschi hoffnungsvoll. Pantomimen liefen nämlich ganz im Stillen ab und verursachten keinerlei Geräusche. "Genau!", stieß Willy ins gleiche Horn, "du könntest dir die Ohren zuhalten, das Gesicht verziehen, dich in Deckung werfen und die anderen Wichtel müssten erraten, welches Zauberstückchen dir gerade misslungen ist." "Ich sagte doch schon, ich verzichte auf eure klugen Ratschläge", zischte Puh, inzwischen schon sehr gereizt. Und mit diesen Worten griff er nach der Maultrommel. Als er aber keinen Ton herausbrachte, schaute er sehnsüchtig zu Kesselpauke, Schlagzeug und E-Gitarre hinüber. Zielstrebig bewegte er sich dann auf das Schlagzeug zu. "Du Puh, warte mal", fiel Zwitschi plötzlich ein und er schien sehr froh darüber zu sein, "Wuschel hat dir vorhin ein Fässchen Lindenblütenhonig vorbeigebracht. Du sollst den Honig in Gläser füllen und ihn unter den Zauberwäldlern verteilen." Der Wichtel seufzte: "Dann muss ich meine Proben wohl unterbrechen. Schade!" Und dann verließ er den Schuppen. "Könnten wir die Tür nicht so fest zurammen, dass er sie nie wieder aufkriegt?", fragte Willy, aber in seiner Stimme schwang keine Hoffnung mit. "Natürlich nicht", erwiderte Zwitschi resigniert. "Dann bleibt uns nur die Flucht, um weiteren musikalischen Schöpfungen unseres verstimmten Instrumentalgenies zu entgehen", erklärte der Kauz. "Mich kriegst du hier nicht weg. Ich werde mich persönlich um unseren Wichtel kümmern und ihm nicht von der Seite weichen. Er braucht mich und ich lasse ihn nicht im Stich", meinte Zwitschi. "Gib es doch zu. Nicht Puhs musikalische Nöte, sondern der Honig hält dich hier." Willy hatte seinen verfressenen Freund längst durchschaut. "Mag sein", gab der offenmütig zu und rauschte durch das offene Fenster in die Zwergenküche. Willy dagegen schwebte von dannen. Vielleicht fand er bei Paul Kauz ein Unterkommen. Bei dieser Gelegenheit wollte er sich auch noch einmal genauestens über Luzies Zeh informieren. Wer, wenn nicht Paul, hatte die gesamte Palette an Zauberwaldtratsch auf Lager.

Nachdem Puh den Honig abgefüllt hatte, war er wieder im Schuppen verschwunden. Zwitschi schrieb "Lindenblütenhonig" auf rosa Klebezettel und etikettierte die kleinen Gläser. Diesen Gefallen war er seinem Lieblingswichtel schuldig, nachdem der ihm ein Schälchen Honig spendiert hatte. Gerade wollte der kleine Vogel das letzte Etikett aufkleben, da hörte er es aus dem Schuppen zu ohrenbetäubendem E-Gitarrenspiel fluchen: "Verflixt und zugewichtelt! Saiteninstrumente sind auch nicht mein Gebiet!" Ein paar Schlagzeugschläge folgten und abgerundet wurde das Ganze von einem beherzten Griff zur Kesselpauke. Zwitschi klebte das letzte Etikett vor Schreck diagonal auf das Honigglas. Das instrumentale Intermezzo brach jäh ab. "Verflixt noch mal" und "Ach du großer Wichtel", waren die einzigen Geräusche, die noch aus dem Schuppen drangen. Der kleine blaue Vogel verließ die Zwergenküche. Er wollte Puh in seinem Kummer nicht allein lassen.

Als er den Schuppen erreichte, saß der Zwerg zusammengesunken am Boden und versuchte die Seiten der E-Gitarre zu stimmen. Dabei drehte er den Gitarrenwirbel der A-Saite aber so fest, dass die Saite zersprang. "Oh verflixt", seufzte er. "Puh, hör mir mal zu", zwitscherte der kleine Vogel und setzte sich neben ihn, "ich fürchte, mit dem Musizieren wird es bestimmt nicht klappen." "Du hast ja recht. Ich merke es auch." "Wäre es dann nicht besser dieses unerfreuliche Kapitel deiner Talentsuche endlich zu beenden?", fragte der kleine Vogel zaghaft. Puh nickte. "Und nun", seufzte er, "was soll ich nur machen? Ich weiß ja selber, dass ich weder ein guter Sänger noch ein flotter Tänzer bin. Das hier ist meine letzte Möglichkeit für einen glanzvollen Auftritt." "Vielleicht kann ich ja aus dir noch einen guten Sänger machen", war Zwitschi optimistisch. Er musste seinem Freund unbedingt Mut machen, so niedergeschlagen, wie der mit der zerrissenen Gitarrensaite spielte. "Meinst du wirklich?", fragte Puh und seine Augen blitzten. "Aber klar, ich gebe dir Gesangsunterricht und alles wird gut", versprach Zwitschi.

Und so nahm der Zwerg drei Tage lang Gesangsunterricht bei ihm. Zwitschi war ein guter Lehrer. Er gab Puh geduldig Hinweise, sang ihm immer wieder die Stellen des Liedes vor, an denen er stecken geblieben war und lobte den Wichtel, wenn er meinte leichte Verbesserungen zu hören. Sie probten zusammen die Tonleiter rauf und runter und am Ende: "Du Zwitschi, das wird nichts", sagte Puh. "Doch! Wir können es schaffen, wenn du nur willst", erwiderte Zwitschi. "Ach nein, aus mir wird nie ein großer Sänger. Wahrscheinlich besteht mein Talent darin, dass ich kein Talent habe." "Ach Puh, mach dich nicht so schlecht", tröstete ihn der kleine Vogel, "wer außer dir könnte mit mir zusammenleben und dabei so wenig schimpfen." "Mmmh, da sagst du was", antwortete Puh und musste ein wenig lächeln. Zwitschi hatte es geschafft ihn aus seinen trüben Gedanken zu reißen. Was war er froh, dass er die kleine blaue Nervensäge im Hause hatte. "Du, mir ist da ein Gedanke gekommen. Wenn du willst, treten wir zusammen beim Talentwettbewerb auf, und zwar mit einer Zirkusnummer." "Klingt gut und wie stellst du dir das vor?", war Puh plötzlich ganz gespannt. "Ich dachte mir Folgendes: Du wirfst mit Rosinen und ich fange sie mit meinem Schnabel", verkündete Zwitschi und strahlte übers ganze Gesicht. "Das könnte funktionieren, allerdings sollten wir die Proben auf wenige Würfe beschränken, sonst kannst du mir nicht mehr in den Wichtelwald folgen, weil du zu vollgefressen bist", lachte Puh und warf Zwitschi einen Sonnenblumenkern zu, den dieser prompt auffing. "Treffer!", rief der Wichtel begeistert und begann noch im selben Augenblick den Anmeldebogen auszufüllen.